Bruno Latour: Making Things Public

Rede zur Finissage der Ausstellung »Making Things Public« am 2. Oktober 2005

Ein Blick in die Ausstellung »Making Things Public«.
Die historische Situation Europas:
Wir, die alten europäischen Nationen, die wir auf eine unermeßliche Erbschaft stolz sind, die das Griechische Denken ebenso wie das Römische Recht und die Buchreligionen umfaßt, wir haben unseren Planeten vermessen, für eine gewisse Zeit Reiche erobert, den Globus geschaffen, für den Rest der Welt das Allgemeinverbindliche definiert, aber wir haben auch die schrecklichsten Territorial-, Kolonial- und Weltkriege verursacht. Im Bewußtsein der Erhabenheit unserer Tradition und zugleich auch der in ihrem Namen begangenen Fehler und unserer gegenwärtigen Schwäche haben wir feierlich geschworen, unsere Schicksale, die so verschiedenartig und gleichzeitig so gemeinsam sind, in einem politischen Abenteuer zu vereinen, für das es in Geschichte keinerlei Vorbilder gibt, um gemeinsam wiederzuentdecken, welches von nun an unser Teil in der Globalisierung sein wird, die wir herbeiwünschen.

Entstehung eines künftigen europäischen Volkes:
Wir, die alten europäischen Nationen, die wir lange Zeit aufgrund der Interessen, der Religionen, der Kulturen und der Sprachen geteilt waren, wir schwören, auf alle mögliche Arten zur Schaffung eines europäischen Volkes beizutragen, welches allein ermächtigt sein wird, in einer Zukunft, die wir als nahe erhoffen, eine wirkliche Verfassung zu verabschieden, die von einer endlich rechtsgültigen europäischen Konvention aufgestellt wurde. In Erwartung dieser Verfassung und um ein europäisches Volk entstehen zu lassen, haben wir beschlossen, diesen feierlichen Vertrag zwischen den Nationen zu unterschreiben.

Neuverteilung der Attribute der Souveränität:
Wir, die alten europäischen Nationen, die wir alle Vorteile aus dem Nationalstaat gezogen haben, aber auch durch Jahrhunderte des Bruderkrieges hindurch den gesamten Preis für eben diese Vorteile bezahlt haben, wir sind uns des Festhaltens bewußt, das die europäischen Völker der langsamen Ausformung ihrer Souveränität zu Recht einräumen, wir sind uns aber in noch höherem Maße der Gestaltbarkeit dieser Formen des gemeinsamen Lebens bewußt; mit der Gewißheit, unserer jeweiligen Geschichte treu zu bleiben, haben wir uns für ein einzigartiges Unternehmen eingesetzt, um alle Attribute und alle Symbole der Souveränität erneut in Frage zu stellen und um sie nacheinander neuzuverteilen. Wir haben die Gewißheit, daß es, trotz des veränderten Maßstabes, möglich ist, das Gefühl der Sicherheit und Zugehörigkeit wiederzufinden, das für das staatsbürgerliche Leben unerläßlich ist.

Platz der Religionen:
Wir, die alten europäischen Nationen, die wir aus der christlichen Religion unermeßliche spirituelle und kulturelle Wohltaten gezogen haben, die wir aber auch durch die Jahrhunderte der Religionskrieger und zu sühnender Massaker den gesamten Preis der Toleranz und der Säkularisierung erfahren haben - wir schwören, die Institutionen zu schaffen und zu schützen die, indem sie die Wichtigkeit der bereits etablierten Religionen anerkennen, diese von der öffentlichen Aktion auf Abstand halten und es den Fremden dank der Aufnahme, die wir ihnen bereiten, erlauben, ihre Verbindungen mit ihren eigenen Glaubensrichtungen neu zu überdenken. Die Religionen bilden weder die Vergangenheit noch die Zukunft Europas, sondern einen Faktor, der es in seiner jahrhundertealten Erforschung des öffentlichen Raumes begleiten kann.

Die Rolle der Ökonomie:
Wir, die alten europäischen Nationen, die wir die politische Ökonomie erfunden und dann, dank der Markt-Organisationen, einen bis dahin unbekannten Wohlstand in Gang gesetzt haben; wir, die wir dem gesamten Planeten Leid zugefügt haben durch die schädlichen Auwirkungen der Kapitalismen; wir, die wir dem gesamten Planeten erneut Leid zugefügt haben durch die noch schrecklicheren schädlichen Auswirkungen, die durch die Formen des Totalitarismus verursacht wurden, die vorgaben, diese zu stürzen - wir schwören feierlich, die Institutionen zu errichten, die die ökonomischen Organisationen in die demokratischen Formen eingliedern, welche allein imstande sind, das Gemeingut zu definieren. Es ist an der Zeit, daß die ökonomische Wissenschaft, diese weltliche Religion, endlich von den Ansprüchen des Staates getrennt wird.

Natur der Ökologie:
Wir, die alten europäischen Nationen, die wir durch die rasante Entwicklung der Wissenschaften und Technik die fruchtbarsten Umwälzungen in den Weltanschauungen geschaffen haben, wir, die wir uns der ungeheueren Erbschaft bewußt sind, die uns die zahlreiche Nachkommenschaft der europäischen Gelehrten hinterlassen hat, wir, die wir uns aber auch der Zerstörungen bewußt sind, die die Vorstellung von einer äußeren Natur, die zu besitzen und zu beherrschen ist, verursacht hat - wir schwören feierlich, die Wissenschaften und die Technik neuerlich im Zentrum unserer Kultur zu lokalisieren, um zu lernen, dauerhaft mit Lebensformen zusammenzuleben, die sich von nun an im Inneren unseres politischen Raumes befinden. Nachdem wir lange Zeit beabsichtigt haben, unseren Planeten zu modernisieren, setzen wir uns von nun an dafür ein, ihn im Sinne der Ökologie zu gestalten.

Die Grenzen Europas:
Wir, die alten europäischen Nationen, die wir uns bewußt sind, daß keine geographische, ethnische, kulturelle oder religiöse Grenze dafür ausreichend ist, das zukünftige europäische Volk zu definieren, wir, die wir uns aber ebenfalls bewußt sind, daß einzig das Gefühl einer gemeinsamen Vergangenheit es uns erlauben kann, mit unserer Union erfolgreich zu sein, wir wollen feierlich die Grenzen Europas auf die nahen Völker beschränken, die direkt zur Geschichte der Modernisierung beigetragen haben, die auf die Versuchungen des Reiches verzichtet haben und die es aus diesen Gründen akzeptieren, sich mit uns einzusetzen bei der Erschaffung einer zweiten Moderne. Nur wenn einmal seine Grenzen definiert und definitiv sind, wird Europa mit den anderen politischen Gebilden die Erschaffung des Globalen wiederaufgreifen können, dessen Form es zu schnell geglaubt hatte, begrenzen zu müssen.

Das Europa und die Aufklärung:
Wir, die alten europäischen Nationen, die wir überzeugt sind, daß kein anderer Teil der Welt auf einer so kleinen Fläche so viele geographische und kulturelle Verschiedenartigkeiten, so viele wunderbare Herrlichkeiten versammelt, wir, die wir uns der Schwierigkeiten des Unternehmens bewußt sind, die wir aber auch sicher sind, daß wir ohne diese Neuverteilung der Attribute der Souveränität zum Untergang oder zur Unterwerfung unter gegenwärtige und künftige Reiche verdammt sind, wir sind sicher, daß Europa darin den Glanz und Einfluß finden wird, den es im Laufe der vergangenen Jahrhunderte in der Eroberung und in der Hegemonie vergeblich gesucht hat. Nachdem es die Welt durch die erste Aufklärung umgewälzt hat, die durch seine Geschichte tief verdunkelt wurde, wird es nur, wenn es seiner selbst sicher ist, seine historische Aufgabe wiederaufnehmen können, den anderen Völkern Licht zu bringen und ihnen noch einmal, aber dieses Mal mit Recht, die europäische Konstruktion als Beispiel dafür zu geben, was die Menschheit auf diesem Planeten vermag.