Ein neues Narrativ in zehn Phasen

Die Kunstentwicklung in Europa nach 1945

Titelbild der Ausstellung zu »Kunst in Europa 1945-1968. Der Kontinent, den die EU nicht kennt«

Eine der Hauptthesen der Ausstellung »Kunst in Europa 1945–1968« lässt sich vereinfacht in zehn Phasen beschreiben. Sie zeigt, wie sich die Kunst vom Zustand, Gefangene des Traumas zu sein, langsam befreit und zu neuen nicht-klassischen Ausdrucksmitteln findet. Auf die traumatischen Erfahrungen von Verfolgung, Vertreibung, Verstümmelung und Vernichtung antwortete die Kunst mit Absurdem Theater, Nonsens, Nihilismus und Neo-Dada etc., aber auch mit Wagnis, Widerstand und Wiederaufbau, mit Bruch und Aufbruch.

1. Phase: Trauma und Erinnerung

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs befand sich Europa am Nullpunkt des Sinns und des Seins. In mehreren Phasen versucht die europäische Kunst, sich vom Trauma der Destruktion (Weltkrieg, Genozide, Holocaust, Gulag, Atombombe) zu befreien. Die zerstörten Häuser und Menschenleiber werden zunächst vormodern, d.h. figurativ, repräsentiert: als Schmerzensbilder und Schmerzensskulpturen.

Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945-1968« mit zwei Gemälden und einer Skulptur.
Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945–1968«, von links: Alfred Hrdlicka; Graham Sutherland; Dezso Korniss
© die Künstler, VG Bild-Kunst, Foto ©: ZKM | Karlsruhe, Foto: Jonas Zilius

 

2. Phase: Abstraktion

Die Krise der Repräsentation und die Verunsicherung darüber, ob das Grauen der Barbarei überhaupt figurativ darstellbar sei, führen zu Abstraktionen in Malerei und Skulptur. Informel und Tachismus sind Belege für die Reduktion auf die Selbstdarstellung der Darstellungsmittel, welche verformt und verzerrt werden. Phasen 1 und 2 sind subjektzentrierte Ausdruckskunst.

Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945-1968« mit fünf Gemälden.
Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945–1968«, von links: Tadeusz Kantor; Tadeusz Kantor; Stefan Gierowski; Alfred Lenica; Tadeusz Brzozowski
© die Künstler, Foto ©: ZKM | Karlsruhe, Foto: Jonas Zilius

 

3. Phase: Materialmalerei oder die Krise des Tafelbildes

Die Tabula rasa ergreift die Darstellungsmittel selbst. Die italienische Materialmalerei der 1950er-Jahre verwendet statt Leinwand und Ölfarbe Eisen, Zement, Sackleinen. Das Gemälde wird zum Gegenstand. Das Tafelbild ist an seinem Nullpunkt: Das Bild verschwindet, die Tafel bleibt. Die Repräsentation endet in realer Materialität. Die Arte Povera erweiterte in den 1960er-Jahren die »polimaterici« der Materialmalerei ins Räumliche und Installative.

Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945-1968«.
Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945–1968«, von links: Alberto Burri; Agenore Fabbri; Agenore Fabbri; Ettore Colla; Edgardo Mannucci; Pierluca; Manfredo Massironi; Giuseppe Uncini
© die Künstler, VG Bild-Kunst, Foto ©: ZKM | Karlsruhe, Foto: Jonas Zilius

 

4. Phase: Selbstzerstörung der Darstellungsmittel

Die Kultur hat angesichts der Barbarei versagt. Die erfahrene und beobachtete reale Zerstörung wird auf die Darstellungsmittel selbst übertragen. Pianos, Bücher, Leinwände werden zerschmettert, verbrannt und zerschlitzt. Als Gefangene des Traumas wird Kunst zur „Reaktionsbildung“ (Anna Freud). Die Autodestruktion der Darstellungsmittel wird als künstlerisches Verfahren für Skulptur und Malerei, Literatur, Musik und Film richtungsweisend.

Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945-1968«.
Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945–1968«, von links: Yves Klein; Yves Klein; Ivo Gattin; Ivo Gattin
© die Künstler, VG Bild-Kunst, Foto ©: ZKM | Karlsruhe, Foto: Jonas Zilius

 

5. Phase: Neuer Realismus oder von der Repräsentation zur Realität

Auf die Verweigerung und das Verbot der Repräsentation (T.W. Adorno) antwortet Raul Hilberg mit dem Bestehen auf objektzentrierte Realität. Die Phase des Ausstiegs aus dem Trauma beginnt mit dem Ausstieg aus dem Bild. Schritt für Schritt wird alles, was bisher Repräsentation war, in der Kunst durch Realität ersetzt. Der Dialog mit den realen Dingen bildet die Kunstrichtung des Neuen Realismus, die auch Alltagsgegenstände für kunstfähig erklärt. Massenmedien und Massenproduktion wurden daher zu Quellen der Pop Art.

Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945-1968«.
Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945–1968«, von links: Gyula Konkoly; Daniel Spoerri; Nam June Paik; Arman; Jean-Jacques Lebel; Jean-Pierre Raynaud
© die Künstler, VG Bild-Kunst, Foto ©: ZKM | Karlsruhe, Foto: Jonas Zilius

 

6. Phase: Neue Visionen und Tendenzen

Auf die Brüche mit den historischen Darstellungs- und Ausdrucksmitteln folgten die Aufbrüche in Zonen neuer Methoden, Materialien, Maschinen und Medien – eine Expansion der Künste. Vom bewegten Objekt bis zum bewegten Betrachter, von Kinetik zu Kybernetik, von Op-Art zu Neo-Konstruktivismus und Arte programmata, liefert die Kunst als Forschung neue visuelle Erfahrungen, welche die Partizipation des Publikums voraussetzen.

Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945-1968«.
Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945–1968«, von links: Lucio Fontana; Christian Megert; Hans Bischoffshausen; Otto Piene
© die Künstler, VG Bild-Kunst, Foto ©: ZKM | Karlsruhe, Foto: Jonas Zilius
Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945-1968«.
Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945–1968«, von links: Yvaral; Vojin Bakić; Ivan Picelj
© die Künstler, VG Bild-Kunst, Foto ©: ZKM | Karlsruhe, Foto: Jonas Zilius

 

7. Phase: Handlungsformen der Kunst

Die Elemente der Kunst werden zu Modulen von Variablen. Der Rezipient kann durch seine physischen Eingriffe Werke verändern. Das Kunstwerk und seine Gestaltung werden analog oder digital programmierbar. Das Bild wird zu einer Handlungsform ebenso wie die Skulptur. Statt Werken gibt es Anweisungen der KünstlerInnen, die das reale Publikum in den Mittelpunkt stellen.

Ausstellungsansicht von Jean Tinguely, »Do-it-yourself-sculpture«, 1961
Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945–1968«: Jean Tinguely
© Jean Tinguely, VG Bild-Kunst, Foto ©: ZKM | Karlsruhe, Foto: Jonas Zilius
Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945-1968«.
Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945–1968«, von links: Karl Gerstner; Karl Gerstner; Paul Talman; Yaacov Agam; Arthur Køpcke
© die Künstler, VG Bild-Kunst, Foto ©: ZKM | Karlsruhe, Foto: Jonas Zilius

 

8. Phase: Aktionskunst

In drei Stufen befreit sich die Kunst von der Repräsentation:
1. Action Painting, d.h. Aktion des Malers auf der horizontalen Leinwand.
2. Schaumalen, d.h. Aktion des Malers vor der Leinwand auf einer Bühne und vor Publikum.
3. Aktion des Malers ohne Leinwand vor Publikum.
In der Aktionskunst stehen die KünstlerInnen als PerformerInnen im Mittelpunkt. Mit den Aktionen, Demonstrationen, Happenings und Performances der KünstlerInnen und mit der Partizipation und Handlung des Publikums beginnt die Performative Wende.

Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945-1968«.
Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945–1968«, von links: Sigmar Polke; Timm Ulrichs; Timm Ulrichs; Franz Erhard Walther
© die Künstler, VG Bild-Kunst, Foto ©: ZKM | Karlsruhe, Foto: Jonas Zilius
Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945-1968«.
Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945–1968«, von links: Braco Dimitrijević; Milan Knížák; Milan Knížák; Milan Knížák; Zorka Ságlová; Zorka Ságlová
© die Künstler, VG Bild-Kunst, Foto ©: ZKM | Karlsruhe, Foto: Jonas Zilius

 

9. Phase: Konzeptkunst

Auf die Materialphase der Kunst folgt die Tendenz der Immaterialisierung. Handlungsanweisungen an das Publikum ersetzen die Handlung. Die Beschreibung einer Ausstellung wird zur Ausstellung, der Kunstkommentar wird selbst zur Kunst, Sprachanalysen werden zu Bildformen. Von der visuellen Poesie bis zur Story Art entsteht eine textbasierte mediale Kunst aus Fotografien, Filmen und Neonröhren, versetzt mit Objekten, welche zwischen Kunst und Philosophie neue Beziehungen herstellt. Sprache wird zum Modell. Statt Bildern herrscht Begriffsschrift: Konzeptkunst. Sie ist Ausdruck der linguistischen Wende in der Kunst.

Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945-1968«.
Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945–1968«, von links: Marcel Broodthaers; Art & Language; Art & Language; Art & Language; Art & Language; Hanne Darboven; Roman Opalka
© die Künstler, VG Bild-Kunst, Foto ©: ZKM | Karlsruhe, Foto: Jonas Zilius

 

10. Phase: Medienkunst

Auf die Bewegungsmaschinen folgen die Bildmaschinen, d.h. das apparative bewegte Bild in den diversen Medien: Film, Video, Computer. Die Ära der Medienkunst beginnt. Sie bildet die Summe der vorangegangenen repräsentativen und realistischen Strategien, aber öffnet auch den Raum des Imaginären und Virtuellen – und damit den Raum des Künftigen. Partizipation wird zur Interaktivität.

Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945-1968«.
Blick in die Ausstellung »Kunst in Europa 1945–1968«, Halas & Batchelor
© die Künstler, Foto ©: ZKM | Karlsruhe, Foto: Jonas Zilius

Ein Beitrag von Peter Weibel

Der Theoretiker, Kurator und Künstler Peter Weibel (*1944, Odessa) ist seit 1999 Vorstand des ZKM | Zentrum für Kunst und Medien.