Schwerkraft in Zeitlupe – »Force« von Kohei Nawa

25.05.2016

Eine Person steht vor einer Skulptur, bei der mehrere Rinnsale von Öl auf den Boden tropfen

In seiner Arbeit »Force« befasst sich der japanische Künstler Kohei Nawa mit der Schwerkraft und zeigt auf, vor welche komplexen Aufgaben diese den menschlichen Wahrnehmungsapparat stellt.

VON ANDRÉ WEISS

Die Installation ist Teil der Ausstellung »New Sensorium. Exiting from Failures of Modernization« (05.03–04.09.2016). Zu sehen sind überwiegend Werke nicht-westlicher, asiatischer Künstler, die sich mit der Erweiterung unserer Sinne beschäftigen, wie sie durch Technisierung und Digitalisierung möglich wird.

Ist dieser düstere Regen fest oder flüssig? Fällt er, oder steht er? Diese Fragen sind durch reines Zuschauen nur schwer zu beantworten: Zu gerne würde man sich durch einen Griff in die schwarze Wand vergewissern, ob die unablässig von der Decke strömende schwarze Masse die Eigenschaften von Feststoffen oder Flüssigkeiten innehat. Die Installation »Force« von Kohei Nawa lässt die Schwerkraft in einem neuen Licht erscheinen. Sie irritiert die menschliche Wahrnehmung und lässt Zweifel an den gesammelten Eindrücken aufkommen. Grund genug, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen und unter die Lupe zu nehmen, was da eigentlich genau passiert.

»When I found the silicone oil, I thought this is very good to see the gravity.«

– Kohei Nawa

Den größten Teil des ZKM_Lichthof 2 füllt derzeit ein etwa 7,50 Meter hoher, in strahlendem Weiß gestrichener Baldachin. Aus einer Rinne an seiner Rückwand strömt gleißendes Licht, das dafür sorgt, dass sich die von der Decke fallende Masse kontrastreich absetzten kann. Bei dieser handelt es sich um 1,6 Tonnen schwarz pigmentiertes Silikonöl, das von einer besonderen Viskosität – dem Maß für die Zähflüssigkeit eines Fluids – zeugt.

Hoher technischer Aufwand resultiert in Schaubild der Gravitation

Mit Hilfe einer Archimedischen Schraube, auch Schneckenpumpe genannt, wird es aus dem unteren Becken, in den Korpus des Baldachins befördert. Vom dortigen Verteilerbecken fällt es durch eine perforierte Schablone in Form eines sechs Meter breiten Ölvorhangs wieder zu Boden. Damit das obere Becken nicht überlaufen kann und das Bild für den Betrachter immer gleich bleibt, überwacht eine feine Elektronik das gleichmäßige Arbeiten der Pumpe.

Am Boden ergießt sich das Öl in eine Art Teich und die besondere Beschaffenheit der zähen Flüssigkeit sorgt dafür, dass sich dabei keine Bläschen bilden können. Die Oberfläche ähnelt einem Spiegel und das Spiegelbild stellt eine Verbindung zwischen Decke und Boden her. Es ergibt sich ein Schaubild der Gravitation, welche bekanntlich für die gegenseitige Anziehung von Massen steht.

Auf der Erde bewirkt sie, dass alle Körper nach unten fallen – im Sonnensystem wiederum, dass die Planeten in ihrer Umlaufbahn bleiben. »Force« macht Gravitation einerseits greif- und nachvollziehbar, indem die gegenseitige Anziehungskraft zweier Massen verbildlicht wird: »When I found the silicone oil, I thought this is very good to see the gravity« (Kohei Nawa). Andererseits ruft die Installation aber auch Irritationen hervor, da die gängige Vorstellung von einem im Fall befindlichen Gegenstand verschwimmt und neu gedacht werden muss.

Künstlerische Intention – Das Körperbewusstsein neu verorten

Die Idee, Gravitation abzubilden, verwirklichte der in Kyoto lebende Künstler Kohei Nawa ursprünglich auf einer Leinwand. Im Rahmen seiner Reihe »Direction« entstanden Gemälde von vertikal und parallel zueinander verlaufenden Linien, indem er zähflüssige schwarze Farbe von der oberen Kante über eine um 15 Grad gedrehte Leinwand herablaufen ließ. In diesem Entstehungsprozess liegt die eigentliche Botschaft des Werks: Die von der Erdanziehungskraft bestimmte Geschwindigkeit und Richtung der sich verteilenden Farbe zeigt die Wirkungsmacht der Gravitation auf, der auch der menschliche Körper unterliegt.

Für diese körperliche Bedingtheit will Nawa ein Bewusstsein schaffen, weshalb er den künstlerischen Schöpfungsakt von »Direction« in der Installation »Force« dauerhaft erfahrbar macht. Mit der Umsetzung geht er allerdings noch einen Schritt weiter: Diesmal befindet sich die schwarze Masse nicht auf einer Leinwand, sondern im freien Fall. So entsteht kein Gemälde mehr, sondern eine sich ständig in Bewegung befindende und damit stets verändernde Skulptur. Ein Spannungsfeld zwischen Feststoffen und Flüssigkeiten wird spürbar, innerhalb dessen sich der menschliche Körper verorten muss – doch die Skulptur wird nicht greifbar und so bleibt unsicher, wo genau sein Ort ist.

Über den Autor

André Weiss studiert im Masterstudiengang »Wissenschaft – Medien – Kommunikation« am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Als Praktikant war er im ZKM | Zentrum für Kunst und Medien in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit aktiv.