Pierre-Henri Castel: Freud sans malaise?

Dauer
29:14
Kategorie
Vortrag/Gespräch
Erstellungsdatum
02.12.2006
Beschreibung
Pierre-Henri Castel promovierte in Philosophie sowie in Psychologie, Forscher am Institut d’Histoire et de Philosophie des Sciences et des Techniques des CNRS, Mitglied der internationalen Lacan-Gesellschaft; Psychoanalytiker in Paris und Arzt an der Spezialklinik von Ville-Evrard. Veröffentlichungen u.a.: »La Querelle de l‘hystérie« Paris 1998; »Freud : le moi contre sa sexualité« Paris 2002; »La métamorphose impensable : Essai sur le transsexualisme et l’identité personnelle«, Paris 2003; »A quoi résiste la psychanalyse?« Paris 2006.

Freud ohne Unbehagen?
Es gibt viele gute Gründe, sich mehr als zurückhaltend zu verhalten, was die Argumentation in Das Unbehagen in der Kultur betrifft. Ich werde weder über politische noch über psychoanalytische Gründe sprechen, die geeignet sind, die Richtigkeit von Freuds Thesen in Zweifel zu ziehen, sondern meinen Schwerpunkt eher auf die begrifflichen und logischen Gründe legen, die viele Leser dazu gebracht haben, Das Unbehagen ebenso unbrauchbar für das Verständnis des gesellschaftlichen Lebens zu halten wie Totem und Tabu, wenn man es buchstäblich und aus ethnologischer Sicht liest. Die Gründe für diese Kritik hängen bei Freud alle mit der Artikulation von drei Motiven zusammen, die in seiner Arbeit ständig wiederkehren und deren Kraft in Das Unbehagen deutlicher als in all seinen anderen Arbeiten zu Tage tritt: eine vitalistische Metaphysik, ein Biologismus der Triebe und ein übertriebener methodologischer Individualismus auf soziologischem Gebiet. Diese drei Motive führen zur Einschließung der Psychoanalyse als Wissenschaft in den Rahmen einer Lamarckschen Psychosoziologie, die noch mehr als Le Bon an die berühmten Thesen von McDougall in The Group Mind erinnert.
Meiner Meinung nach ist es weniger die Psychoanalyse, die hier in Frage zu stellen ist, als die Philosophie der Psychoanalyse, die Freud sich auf eigene Faust zusammengebastelt hat und bei der man sich fragen kann, ob sie mit seiner persönlichsten Erfindung vereinbar ist oder nicht. Anders gesagt: Überleben Freuds Ideen zum Über-Ich und zum Todestrieb den wissenschaftsgläubigen Metadiskurs, in den er sie manchmal eingebettet hat? Ich würde also sagen, dass der Bezug auf Hobbes, den Vater des modernen theoretischen Individualismus, ein neues Licht auf die Freudsche Auffassung des Ödipus wirft: es ist in der Tat das »böse und kräftige Kind« des Hobbeschen Naturzustandes, das als Bezugspunkt für die kindliche Triebtätigkeit dient. Und das bleibt nicht ohne Folgen für die Auffassung, die Freud sich über das Inzestverbot und seinen »Gesetzes«-Status gebildet hat. Man wird im Vorübergehen den beträchtlichen Abstand zwischen Freud und Lacan ermessen, und was dieser Abstand grundsätzlich entgegengesetzten soziologischen Kulturen verdankt.
Ich werde dann den Einwand von Wilfred R. Bion in Erfahrungen in Gruppen beschreiben, und in erster Linie die Idee, der zufolge der Mensch vor allem ein Gesellschaftstier ist und kein individueller Organismus, der dem Zwang der Sozialisation ausgesetzt ist. Diese Idee Bions verlängert und radikalisiert nämlich das Kleinsche Moment in der Billigung der Hypothese vom Todestrieb durch die psychoanalytische Bewegung. Denn für Bion widerlegt die konkrete psychoanalytische Forschung über Gruppen die auffälligsten Thesen in Das Unbehagen, was mehrere entscheidende klinische Konsequenzen hat, und zwar vor allem für die Übertragung und die Psychose.
Wenn dieser Beitrag nun »Freud ohne Unbehagen« heißt, dann deshalb, weil er sich gegen eine Pseudo-Treue gegenüber Freud aussprechen will, die einen gesellschaftsgeschichtlichen Pessimismus wiederaufbereitet, der allerdings eher aus der Freudschen Philosophie der Psychoanalyse stammt als aus der Psychoanalyse selbst, und zwar in Form einer Reihe von anti-modernen, wenn nicht gar reaktionären Argumenten, die es ermöglichen, in geschichtsloser und vor allem wohlfeilen Weise jeden zeitgenössischen gesellschaftlichen, kulturellen oder zivilisatorischen Effekt ganz gleich welcher Art zu kritisieren und dabei den Anschein zu erwecken, tiefe Wahrheiten über das Unbewusste auszusprechen.

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