Wo landen nach der Pandemie?

Denkanstöße von Bruno Latour

Grafik zur Ausstellung »Critical Zones« am ZKM Karlsruhe. In Orange ist zu lesen »Critical Zones«, über einer beigen, abstrakten Karte.

Die kleine Übung am Ende dieses Aufsatzes regt zu einer individuellen Reflexion an, durch die es gelingen soll, dass die Dinge nach dem »Lockdown« nicht genauso weitergehen wie davor. Die Übung wird von Bruno Latour (@BrunoLatourAIME) vorgeschlagen –  im Anschluss an Argumente, die er in »Das terrestrische Manifest« (Surkamp, 2018) formulierte.

Um die Beantwortung der Fragen zu erleichtern, haben Bruno Latour und seine MitstreiterInnen eine Onlineplattform entwickelt, mittels der Menschen, vielleicht, in Diskussionen und Workshops miteinander verbunden werden. 


Der hier publizierte Aufsatz wurde erstmals am 30. März 2020 auf Französisch unter dem Titel »Imaginer les gestes-barrières contre le retour à la production d’avant-crise« in AOC Media veröffentlicht.

Welche Schutzmaßnahmen können wir uns vorstellen, um nicht zum Produktionsmodell der Zeit vor der Krise zurückzukehren?

Vielleicht ist es ungehörig, sich in die Zeit nach der Krise zu versetzen, während das Gesundheitspersonal »an der Front« steht, Millionen von Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren und trauernde Familien ihre Toten nicht einmal begraben können. Und doch müssen wir uns gerade jetzt dafür einsetzen, dass sich das alte Klimaregime, gegen das wir bisher vergeblich gekämpft haben, mit der wirtschaftlichen Erholung nach der Krise nicht wieder etabliert. Tatsächlich ist die Gesundheitskrise in etwas eingebettet, das keine Krise ist (Krisen sind immer vorübergehend), sondern eine nachhaltige und unumkehrbare ökologische Veränderung. Wenn wir mit etwas Glück aus der ersten Krise »entkommen«, so werden wir keine Chance haben, der zweiten zu »entkommen«. Obwohl die beiden Situationen nicht das gleiche Ausmaß haben, ist es überaus aufschlussreich, sie miteinander zu verknüpfen. Auf jeden Fall wäre es schade, die aktuelle Gesundheitskrise nicht zu nutzen, um andere Wege zu entdecken, so dass der ökologische Wandel nicht im Blindflug eingeleitet wird.

Die erste Lektion des Coronavirus ist auch die verblüffendste: Es hat sich gezeigt, dass es möglich ist, innerhalb weniger Wochen (überall auf der Welt und gleichzeitig) ein Wirtschaftssystem auszusetzen, von dem uns bisher gesagt wurde, dass es unmöglich verlangsamt oder gar umgestaltet werden könne. Allen Argumenten, die Ökologen zugunsten einer Veränderung unserer Lebensweise vorbrachten, wurde stets die unumkehrbare Kraft des »Fortschritts« entgegengehalten und dass »wegen der Globalisierung« nichts aus den Gleisen geraten dürfe. Doch gerade ihr globalisierter Charakter macht diese Entwicklung, die sich nun wahrscheinlich verlangsamen und dann plötzlich zum Stillstand kommen wird, so fragil.

In der Tat sind nicht nur multinationale Unternehmen oder Handelsverträge oder das Internet oder Reiseveranstalter für die Globalisierung des Planeten verantwortlich: Jede Einheit auf diesem Planeten hat ihre eigene Art, andere Elemente zu verbinden, die zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Kollektiv bilden. Dies gilt für CO2, das durch seine Verbreitung in der Luft die globale Atmosphäre erwärmt, ebenso wie für Zugvögel, die neue Formen der Grippe in sich tragen. Aber es gilt auch, wie wir gerade schmerzlich erfahren, für das Coronavirus und seine Fähigkeit, alle Menschen durch das scheinbar harmlose Medium unserer Speicheltröpfchen zu verbinden. Ein Globalisierer, anderthalb Globalisierer: Wenn es darum geht, Milliarden von Menschen zu resozialisieren, sind die Mikroben beispielhaft!

Es ist eine unglaubliche Entdeckung: Es gab tatsächlich im Weltwirtschaftssystem, vor allen verborgen, ein leuchtend rotes Alarmzeichen mit einem schönen großen Nothaltgriff aus Edelstahl, an dem die Staatsoberhäupter nacheinander ziehen konnten, um »den Zug des Fortschritts« mit einem lauten Quietschen der Bremsen augenblicklich anzuhalten. Wenn die Aufforderung, sich um 90 Grad zu drehen, um auf der Erde zu landen, im Januar noch eine süße Illusion zu sein schien, so wird sie jetzt viel realistischer: Denn jeder Autofahrer weiß, dass es besser ist, zuerst etwas langsamer zu fahren, wenn er eine Chance haben will, sich mit einer plötzlichen Drehung des Lenkrads zu retten (ohne im Graben zu enden)...

Leider wird diese plötzliche Pause im globalisierten Produktionssystem nicht nur von Umweltschützern als große Chance gesehen, um ihr Landungsprogramm voranzutreiben. Auch die Globalisierer, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts die Vorstellung entwickeln, sich den Beschränkungen des Planeten entziehen zu können, sehen darin eine enorme Chance, noch radikaler mit den verbleibenden Hindernissen aufzuräumen, die ihrer Flucht aus der Welt entgegenstehen. Es ist eine zu gute Gelegenheit für sie, den Rest des Wohlfahrtsstaates, das Sicherheitsnetz für die Ärmsten, die noch verbleibenden Umweltschutzgesetze und, was noch zynischer ist, all die überzähligen Menschen loszuwerden, die den Planeten verstopfen.1

Tatsächlich dürfen wir nicht vergessen, dass wir davon ausgehen müssen, dass diese Globalisierer sich des ökologischen Wandels bewusst sind und dass all ihre Bemühungen in den letzten 50 Jahren sowohl darin bestanden, die Bedeutung des Klimawandels zu leugnen, als auch seinen Folgen zu entkommen, indem sie befestigte Bastionen aus Privilegien errichteten, die für all jene, die im Stich gelassen werden, unerreichbar bleiben. Der große modernistische Traum der universellen Teilhabe an den »Früchten des Fortschritts« – sie sind nicht naiv genug, um noch daran zu glauben. Was jedoch neu ist: Sie wollen nicht einmal mehr den Glauben daran aufrechterhalten.2 Sie sind diejenigen, die sich täglich bei Fox News zu Wort melden. Sie regieren alle klimaskeptischen Staaten der Erde – von Moskau bis Brasilia und von Neu-Delhi, über London bis Washington.

Was die gegenwärtige Situation so gefährlich macht, sind nicht nur die täglich ansteigenden Todeszahlen, sondern auch die allgemeine Aussetzung eines Wirtschaftssystems. Es bietet denjenigen, die auf der Flucht vor der planetarischen Welt immer weiter gehen wollen, eine wunderbare Gelegenheit »alles in Frage zu stellen«. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Globalisierer so gefährlich sind, weil sie genau wissen, dass sie verloren haben, dass der Klimawandel nicht unbegrenzt geleugnet werden kann und dass es keine Chance mehr gibt, ihre »Entwicklung« mit den verschiedenen Hüllen des Planeten, in die sich die Wirtschaft letztlich einfügen muss, in Einklang zu bringen. Daher sind sie bereit, alles Mögliche zu versuchen, um ein letztes Mal jene Bedingungen zu schaffen, die es ihnen ermöglichen, etwas länger durchzuhalten und sich und ihre Kinder zu schützen. Der »Stopp der Welt«, diese Bremse, diese unerwartete Pause, gibt ihnen die Möglichkeit, schneller und weiter zu fliehen, als sie es sich jemals vorgestellt haben.3 Die Revolutionäre, im Moment sind sie das.

Genau jetzt müssen wir handeln. Wenn sich den Globalisierern eine Möglichkeit eröffnet, eröffnet sich auch eine für uns. Wenn alles angehalten wird, dann kann alles in Frage gestellt, umgesteuert, ausgewählt, sortiert, endgültig unterbrochen oder, im Gegenteil, beschleunigt werden. Jetzt ist es an der Zeit, die jährliche Bestandsaufnahme zu machen. Auf die Bitte des gesunden Menschenverstandes – ”Lasst uns die Produktion so schnell wie möglich wieder aufnehmen” – müssen wir mit einem Schrei antworten: “Sicher nicht!”. Das Letzte, was wir tun sollten wäre, alles wieder genau so zu machen, wie wir es vorher gemacht haben.

So wurde beispielsweise neulich im Fernsehen ein niederländischer Florist mit Tränen in den Augen gezeigt, als er Tonnen versandfertiger Tulpen wegwerfen musste, die er, da er keine Kunden mehr hat, nicht mehr per Flugzeug in die ganze Welt schicken kann. Wir können ihn natürlich bedauern. Es ist nur fair, dass er entschädigt wird. Doch dann bewegte sich die Kamera zurück und zeigte, dass er seine Tulpen unter künstlichem Licht wachsen lässt, bevor er sie in einem Regen aus Kerosin an den Frachtflugzeugen in Schiphol abliefert. Daher der Ausdruck des Zweifels: »Lohnt es sich wirklich, diese Art der Produktion und des Verkaufs dieser Blumen fortzusetzen?«

Wenn wir alle nach und nach anfangen, Fragen dieser Art zu jedem Aspekt unseres Produktionssystems zu stellen, werden wir zu effektiven »Ein-Aus-Schaltern der Globalisierung«. Wir – wir sind Millionen – werden genauso wirksam sein wie das berühmte Coronavirus mit seiner Art der Globalisierung des Planeten. Was dem Virus durch bescheidene Speicheltröpfchen von Mund zu Mund gelingt – das Anhalten der Weltwirtschaft –, das beginnen wir durch kleine, unbedeutende Gesten zu imaginieren, die wir Stück für Stück zusammenfügen: die Aussetzung des Produktionssystems. Wenn wir uns diese Art von Fragen stellen, beginnen wir, uns »Schutzmaßnahmen« vorzustellen, die sich nicht nur gegen das Virus richten, sondern gegen alle Elemente einer Produktionsweise, die wir nicht wieder aufnehmen wollen.

Es geht darum, aus der Produktion als einziges Prinzip der Beziehung zur Welt auszusteigen

Es geht nicht mehr darum, ein Produktionssystem fortzuführen oder umzusteuern. Es geht darum, aus der Produktion als einziges Prinzip der Beziehung zur Welt auszusteigen.4 Es ist keine Frage der Revolution, sondern der Auflösung, Pixel für Pixel. Wie Pierre Charbonnier zeigt5, ist es nach hundert Jahren Sozialismus, der sich auf die Umverteilung der Gewinne der Wirtschaft beschränkt, vielleicht an der Zeit, einen Sozialismus zu erfinden, der die Produktion als solche in Frage stellt. Denn die Ungerechtigkeit beschränkt sich nicht auf die bloße Umverteilung der Früchte des Fortschritts, sondern auf die Art und Weise, wie der Planet fruchtbar gemacht wird. Das bedeutet nicht den Rückgang des Wachstums oder dass wir nur noch von Luft und Liebe leben, sondern dass wir lernen, einzelne Segmente dieses berühmten, angeblich unumkehrbaren Systems auszuwählen, angeblich unverzichtbare Verbindungen in Frage zu stellen und Schritt für Schritt zu überprüfen, was wünschenswert ist und was nicht.

Daher ist es so wichtig, die Zeit der Ausgangsbeschränkungen zu nutzen, um zunächst für sich selbst und dann als Gruppe zu »beschreiben«, woran wir gebunden sind; wovon wir bereit sind, uns zu befreien; welche Handlungsketten wir bereit sind, wieder aufzubauen und welche wir durch unser Verhalten unterbrechen wollen. Die Globalisierer scheinen eine sehr genaue Vorstellung davon zu haben, was nach der Krise wieder entstehen soll: dasselbe, aber schlimmer, mit der Ölindustrie und riesigen Kreuzfahrtschiffen als Bonus. Es liegt an uns, ihnen eine andere Bestandsaufnahme entgegenzuhalten. Wenn innerhalb von ein oder zwei Monaten Milliarden von Menschen auf der Stelle in der Lage sind, eine neue »soziale Distanz« zu erlernen, Abstand zu halten, um mehr Solidarität zu zeigen, zu Hause zu bleiben, um eine Überfüllung der Krankenhäuser zu vermeiden, dann können wir uns die transformative Kraft dieser neuen Schutzmaßnahmen vorstellen, die sich gegen die Wiederherstellung des Bestehenden richten oder gegen eine – was noch schlimmer wäre – neue Offensive derer, die sich der Anziehungskraft der Erde für immer entziehen wollen.

Es geht nicht einfach darum, eine Meinung zu äußern, wie sie einem gerade in den Sinn kommt. Es geht darum, den Zustand zu beschreiben.

Da es immer gut ist, ein Argument mit praktischen Übungen zu verknüpfen, möchte ich vorschlagen, dass die LeserInnen versuchen, diesen kurzen Selbstbeschreibungsfragebogen zu beantworten.6 Die Übung ist umso nützlicher, wenn sie auf direkten persönlichen Erfahrungen beruht. Es geht nicht einfach darum, eine Meinung zu äußern, wie sie einem gerade in den Sinn kommt. Es geht darum, den Zustand zu beschreiben und, gegebenenfalls, zu recherchieren. Erst später, wenn wir uns die Mittel angeeignet haben, wenn wir die Antworten zusammengetragen und die durch ihre Schnittpunkte entstandene Landschaft zusammensetzen, können wir eine Form des politischen Ausdrucks finden, der verkörpert und klar lokalisiert ist, so dass wir effektiv handeln können. Mit anderen Worten, lassen Sie uns die erzwungene Unterbrechung der meisten unserer Aktivitäten dazu nutzen, eine Art Bestandsaufnahme zu machen.

Ein Beitrag von Bruno Latour

Questionnaire

Fragen Verortung des Selbst: Was würden Sie sich wünschen, wie sich unsere Welt entwickeln soll? Womit sollte man aufhören, was sollte man weiterführen?

Workshops: Das Médialab der Sciences Po, Paris bietet regelmäßig Workshops in englischer und französischer Sprache zu Vertiefung und Umgang mit dem »Questionnaire« an.

Es geht darum, eine Liste der Aktivitäten zu erstellen, die Sie aufgrund der aktuellen Krise nicht mehr ausüben können und deren Verlust Ihnen das Gefühl gibt, dass dadurch wesentliche Lebensgrundlagen verletzt werden. Geben Sie für jede Aktivität an, ob Sie wollen, dass sie unverändert (wie bisher) fortgesetzt, dass sie verbessert oder nicht fortgesetzt wird. Beantworten Sie die folgenden Fragen:

Frage 1: Welche der jetzt ausgesetzten Aktivitäten sollen nicht wieder aufgenommen werden? 

Frage 2: Beschreiben Sie, warum die jeweilige Aktivität Ihnen schädlich, überflüssig,  gefährlich oder inkohärent erscheint und wie ihre Abschaffung, Unterbrechung oder Substitution andere Aktivitäten, die Ihnen wichtig sind, einfacher oder kohärenter machen würde.

(Schreiben Sie für jede der in Frage 1 genannten Aktivitäten einen eigenen Absatz). 

Frage 3: Welche Art von Maßnahmen schlagen Sie vor, um ArbeitnehmerInnnen, Angestellten, VertreterInnen oder FreiberuflerInnen – deren Aktivität Sie abschaffen wollen – den Wechsel zu anderen Aktivitäten zu erleichtern? 

Frage 4: Welches sind die derzeit ausgesetzten Aktivitäten, von denen Sie hoffen, dass sie sich entwickeln, dass sie fortgesetzt werden oder dass sie sogar von Grund auf neu erfunden werden können? 

Frage 5: Beschreiben Sie, warum Ihnen die jeweilige Aktivität wünschenswert erscheint. Beschreiben Sie, wie diese Aktivität andere Aktivitäten (die Ihnen wichtig sind) erleichtert, harmonischer oder kohärenter macht. Beschreiben Sie außerdem, wie sie dazu beiträgt, diejenigen Aktivitäten abzuschaffen, die Sie für schlecht erachten.

(Verfassen Sie für jede der in Frage 4 aufgeführten Antworten einen eigenen Absatz).

Frage 6: Welche Art von Maßnahmen empfehlen Sie, um ArbeitnehmerInnen, Angestellten, VertreterInnen, FreiberuflerInnen oder UnternehmerInnen zu helfen, damit diese die notwendigen Kapazitäten, Mittel, Einkommen und Instrumente zur Verfügung haben, um diese Aktivität fortzusetzen, um sie weiterzuentwickeln oder sogar neu zu erschaffen?

(Finden Sie nun einen Weg, Ihre Beschreibung mit den Beschreibungen anderer TeilnehmerInnen zu vergleichen. Die Zusammenstellung und die Überlagerung der Antworten sollten nach und nach eine Landschaft aus Konfliktlinien, Bündnissen, Kontroversen und Gegensätzen entstehen lassen.) 

Übersetzung aus dem Französischen: Margit Rosen

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1Vgl. Stoller, “The coronavirus relief bill could turn into a corporate coup if we aren't careful”, in: »The Guardian«, 24. März 2020, https://bit.ly/3ac2btn .

2“Nous ne vivons pas sur la même planète”, in: »AOC«, 18. Dezember 2019.

3Danowski, Deborah, and Eduardo Viveiros de Castro. "L'arrêt de monde", in: »De l'univers clos au monde infini«, hg. von Hache, Emilie. Paris: Editions Dehors, 2014. 221-339.

4Vgl. Dusan Kazic, »Plantes animées – de la production aux relations avec les plantes«, Dissertation, AgroParisTech, 2019.

5Pierre Charbonnier, »Abondance et liberté. Une histoire environnementale des idées politiques«. Paris: La Découverte, 2020.

Die Selbstbeschreibung folgt dem Verfahren der neuen “Beschwerdehefte” (cahiers de doléance) wie sie Bruno Latour in »Das terrestrische Manifest« (Suhrkamp, Berlin 2018, frz. »Où atterrir? Comment s'orienter en politique«. Paris: La Découverte, 2017) vorgeschlagen hat und das seitdem mit KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen weiterentwickelt wurde.