Baudrillard entschlüsselt »Matrix«

Black-and-white photograph: Jean Baudrillard smokes a cigarette

Für den Theoretiker der Postmoderne ist der Film der Wachowski-Brüder ein lehrreiches Symptom, der Fetisch des technologischen Universums, das er scheinbar kritisiert. Ein Produkt der Massenkultur, doppeldeutig genug, um die Reaktionen zahlreicher Denker auszulösen.

Wir befinden uns im Jahre 2003, es ist dunkel. In knallbunte Sessel von Multiplex-Kinos gezwängt und gezwungen, kiloweise Popcorn zu verschlingen, werden die modernen Schüler von Platon und Schopenhauer als denkende Softwareprogramme benutzt, die den Code von »Matrix« knacken sollen. Wird Neo-Keanu Reeves sie aus der grauenhaften Sklaverei herausreißen, in die sie von den Wachowski-Brüdern versetzt wurden? In Erwartung der Erlösung kämpfen in Internetforen auf der ganzen Welt Philosophen ersten Ranges und Cybersophisten mit schweren Geschoßgarben aus dialektischen Lasern um die Frage, ob Descartes und Berkeley die ersten Vorläufer der schlimmsten aller »Matrix«-Welten sind oder ob Adorno und Horkheimer hinter den ätherischen Luftsprüngen der schönen Trinity stecken. Am 22. Juni wird sich ein philosophischer runder Tisch unter der Überschrift »Die Wüste des Realen« mit »Matrix« beschäftigen.
Diese Saga von der »Matrix«, die ebenso viele New Age-Begriffstrümmer wie anregende metaphysische Interpretationen mit sich schleppt, ist wahrhaftig ein befremdliches Monster. Während der große Slavoj Zizek in Matrix oder die Doppelte Perversion eine höchst subtile lacansche Entzifferung des Films vornimmt, beginnt die Site von TF1 mit einem Zitat aus der »Kritik der reinen Vernunft,« und der Philosoph Jean-Pierre Zaradet bescheinigt dort: »was man mit ›Matrix‹ wiederentdeckt, ist die Tiefe der Philosophie Kants«.

Für diejenigen, die sich seit etwa drei Jahren nicht auf dem Planeten Erde aufgehalten haben und noch nicht in die Matrix eingegangen sind, wollen wir kurz den Inhalt dieses wahrhaft ontologischen Horrorfilms zusammenfassen, der sowohl Anleihen bei der Gnosis als auch bei Philip K. Dick und der Frankfurter Schule macht. Wir befinden uns im 22. Jahrhundert, das Reale ist zerstört, und es ist stark untertrieben zu sagen, daß die Künstliche Intelligenz uns das Leben schwer macht. Eingeschlossen in eine Art Zellen, werden die Menschen von der Matrix als Energiequellen benutzt. Diese ist zugleich Mutter und Maschine, die sie in halluzinogener Weise in der Illusion eines disneylandartigen Realen verharren läßt. Eine Handvoll von Unbeugsamen, die von Neo, dem Auserwählten, angeführt werden, versucht, die Menschheit aus dieser »Un-Welt« zu erlösen, in der die Technik - wenn nicht gar der fortgeschrittene Kapitalismus - sie in mißbräuchlicher Weise bemuttert. Ist nur noch ein Gott mit dunkler Brille in der Lage, uns zu retten?
Mögen die Schüler Heideggers nicht zu früh die Carmagnole tanzen. »Matrix 2« läßt in uns tatsächlich einen schrecklichen Verdacht aufkommen: Hat nicht die Matrix, die Gebärmutter, diese Mega-Höhle Platons, dieser digitale Müllhaufen bereits jeden möglichen Protest integriert und zunichte gemacht? Völlig verrückt sind diejenigen, die sich einbilden, daß Widerstand etwas anderes sein könnte als die letzte Fiktion. Gib mir mal das Popcorn rüber, Baudrillard hat Neo virtualisiert! Der Bezugspunkt für die Wachowski-Brüder, der große Soziologe der Postmoderne erklärt uns heute, wie es zu dieser verwirrenden Vaterschaft gekommen ist.

Aude Lancelin

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Aude Lancelin im Gespräch mit Jean Baudrillard

Le Nouvel Observateur, 19.-25. Juni 2003

Le Nouvel Observateur - Ihre Reflexionen über das Reale und das Virtuelle sind einer der Bezugspunkte, die von den Regisseuren von »Matrix« angeführt werden. In der ersten Episode werden Sie explizit zitiert, und man kann dort sogar den Umschlag ihres Buches »Simulacres et simulations« erkennen, das 1981 erschienen ist. Hat Sie das überrascht?

Jean Baudrillard :: Da hat es sicherlich ein Mißverständnis gegeben. Und das ist der Grund, warum ich bisher gezögert habe, über »Matrix« zu sprechen. Die Mitarbeiter der Wachowsi-Brüder haben nach der ersten Episode übrigens Kontakt mit mir aufgenommen, um mich bei den folgenden einzubeziehen, aber das war nun wirklich unvorstellbar! [Gelächter]. Im Grunde handelt es sich um das gleiche Mißverständnis wie bei den Simulationskünstlern in New York in den 80er Jahren. Diese Leute halten die Hypothese des Virtuellen für einen tatsächlichen Zustand und verwandeln sie in ein sichtbares Phantasma. Aber die Besonderheit dieses Universums besteht gerade darin, daß man die Kategorien des Realen nicht mehr benutzen kann, wenn man darüber sprechen will.

Le Nouvel Observateur :: Die Verbindung zwischen diesem Film und der Sichtweise, die Sie zum Beispiel in »Das perfekte Verbrechen« entwickelt haben, ist dennoch nicht zu übersehen. Diese Heraufbeschwörung einer »Wüste des Realen«. Diese völlig virtualisierten Menschen-Gespenster, die nur noch die Energiereserven von denkenden Objekten sind...

Jean Baudrillard :: Ja, aber es hat auch schon andere Filme gegeben, die sich mit dieser zunehmenden Ungeschiedenheit von Realem und Virtuellem beschäftigt haben: »The Truman Show«, »Minority Report« oder auch »Mulholland Drive,« das Meisterwerk von David Lynch. »Matrix« gilt in erster Linie als paroxystische Synthese von all dem. Aber das Dispositiv ist hier viel grober und ruft keine wirkliche Verwirrung hervor. Entweder die Personen sind in der Matrix, das heißt in der Digitalisierung der Dinge. Oder sie sind radikal draußen, wie etwa in Zion, der Stadt der Widerstandskämpfer. Interessant wäre es dagegen, zu zeigen, was an der Verbindungsstelle der beiden Welten geschieht. Bei diesem Film ist vor allem ärgerlich, daß das durch die Simulation sich neu stellende Problem in ihm mit dem sehr klassischen der Illusion verwechselt wird, das sich bereits bei Platon findet. Da gibt es wirklich ein Mißverständnis.
Die als radikale Illusion gesehene Welt, das ist ein Problem, das sich allen großen Kulturen gestellt hat und das sie durch die Kunst und die Symbolisierung gelöst haben. Was wir erfunden haben, um dieses Leid ertragen zu können, ist ein simuliertes Reales, ein virtuelles Universum, aus dem vertrieben wurde, was es an Gefährlichem, an Negativem gibt, und das nunmehr das Reale verdrängt, das seine letztendliche Lösung wäre. »Matrix« ist voll und ganz von dem gefangen! Alles was zur Ordnung des Traums, der Utopie und des Phantasmas gehört, wird in dem Film sichtbar gemacht, »realisiert«. Man befindet sich in völliger Transparenz. »Matrix« ist sozusagen ein Film über die Matrix, die die Matrix hätte fabrizieren können.

Le Nouvel Observateur :: Es handelt sich aber auch um einen Film, der die technizistische Entfremdung kritisieren will und der gleichzeitig mit der Faszination spielt, die von der digitalen Welt und von synthetischen Bildern ausgeht...

Jean Baudrillard :: Bei »Matrix 2« ist besonders auffällig, daß es nicht den kleinsten Funken von Ironie gibt, die es dem Zuschauer ermöglicht, diesen gigantischen Spezialeffekt gegen den Strich zu sehen. Keine einzige Sequenz, die dieses »punctum« hätte, von dem Roland Barthes spricht, dieses packende Etwas, das einen mit einem echten Bild konfrontiert. Eben das macht den Film übrigens zu einem lehrreichen Symptom und zum Fetisch dieses Universums von Bildschirmtechnologien, in dem es keine Unterscheidung zwischen dem Realen und dem Imaginären mehr gibt. »Matrix« ist in dieser Hinsicht ein extravagantes Objekt, zugleich naiv und pervers, bei dem es weder ein Diesseits noch ein Jenseits gibt. Der Pseudo-Freud, der am Ende des Films spricht, sagt das sehr gut: zu einem bestimmten Zeitpunkt muß man die Matrix umprogrammiert haben, um die Anomalien in die Gleichung aufzunehmen. Und ihr, ihr Widerständler, ihr gehört dazu. Damit befindet man sich anscheinend in einem totalen virtuellen Kreislauf, bei dem es kein Außen gibt. Auch hier befinde ich mich in einer theoretischen Nichtübereinstimmung! [Gelächter]. »Matrix« zeigt das Bild einer allmächtigen Monopolistik der aktuellen Situation und trägt somit zu ihrer Refraktion bei. Im Grunde ist ihre Verbreitung im weltweiten Maßstab Bestandteil des Films selber. Hier muß man sich wieder an McLuhan erinnern: das Medium ist die Botschaft. Die Botschaft von »Matrix« ist seine Verbreitung selber, und zwar durch auswuchernde und unkontrollierbare Ansteckung.

Le Nouvel Observateur :: Es ist auch sehr verblüffend, zu sehen, daß sich alle großen Erfolge des amerikanischen Marketings - von »Matrix« bis zum letzten Album von Madonna - heute explizit als Kritik des Systems präsentieren, das sie massiv fördert...

Jean Baudrillard :: Eben das macht diese Epoche so unerträglich. Das System produziert eine Negativität als trügerischen Schein [trompe-l’œil], der in die Produkte des Spektakels integriert wird, wie die Obsoletheit in den industriellen Objekten eingeschlossen ist. Das ist übrigens die effektivste Methode, jeder echten Alternative einen Riegel vorzuschieben. Es gibt keinen äußeren Omega-Punkt mehr, auf den man sich stützen kann, um diese Welt zu denken. Es gibt keine antagonistische Funktion mehr, und es gibt keine begeisterte Zustimmung mehr. Man muß vielmehr wissen: Je mehr sich ein System der Vollkommenheit nähert, um so mehr nähert es sich dem totalen GAU. Dabei handelt es sich um eine Form von objektiver Ironie, die bewirkt, daß nichts jemals endgültig ist. Der 11. September hatte daran Anteil, ganz gewiß. Der Terrorismus ist keine alternative Macht, er ist immer nur die Metapher dieser fast selbstmörderischen Rückwendung der abendländischen Macht zu sich selber. Das habe ich damals schon gesagt, und es ist nicht akzeptiert worden. Aber es gibt keinen Grund angesichts dessen nihilistisch oder pessimistisch zu sein. Das System, das Virtuelle, die Matrix, all das wird vielleicht wieder in die Mülleimer der Geschichte wandern. Die Reversibilität, die Herausforderung und die Verführung sind unzerstörbar.

 

[Aus dem Französischen von Ronald Voullié]