Was bedeutet terrestrisch?

A hand gives a mouse a berry. The mouse accepts it. They are surrounded by leaves and branches.

Stell Dir vor, die »Terrestrischen« sind ein Wesen oder eine Spezies. Sie haben Sinne, mit denen sie die Welt wahrnehmen und die sie zu Handlungen und Reaktionen anregen. Vermutlich haben sie eine Bewegungsart, wobei sie entweder mit dem Boden verwachsen sind oder sich selbstständig bewegen. Sie kommunizieren über Gerüche, Geräusche oder andere Signale miteinander und möglicherweise auch mit anderen Spezies.

Du bist eingeladen, dich auf eine 3-minütige Übung einzulassen, bevor Du weiterliest. Du brauchst eine Stoppuhr, ein Blatt Papier egal welcher Größe und einen Stift. Ziel der Übung ist es zu manifestieren, ob – und wenn ja, was – Dir zu dem Wort »Terrestrisch« in den Kopf kommt.

Übung
Male einen oder mehrere »Terrestrische«. Stell Dir dafür vor, das Blatt Papier ist der Boden, auf dem die Terrestrischen leben. Wenn es Dir hilft, konzentriere dich auf die Erkundung einer der folgenden Charaktereigenschaften der Terrestrischen: Sinneswahrnehmung, Bewegungsart/Fortbewegung, Kommunikation. Wenn die Aufgabe klar ist und das Blatt bereitliegt, stelle 2 Minuten auf der Stoppuhr ein und male ohne Pause bis die Stoppuhr klingelt einen oder mehrere Terrestrische.

In Terrestrisch steckt »terra«, was auf lateinisch, italienisch und portugiesisch »Erde« bedeutet, und zwar in der doppelten Bedeutung, die »Erde« auch im Deutschen hat: Zum einen als Boden, Nährboden für Pflanzen, Humus und Habitat und zum anderen als Planet, auf dem wir leben.

Das Terrestrische, das in Bruno Latours Denken und Schreiben der letzten Jahre Gestalt angenommen hat, baut auf diesen Bedeutungen auf und meint doch etwas Anderes. Worin liegt der Bedeutungsgehalt des Begriffes »Terrestrisch«?

»Terrestrisch« bei Bruno Latour 

In »Wir sind nie modern gewesen« (1991) stellt Latour fest, dass die Modernen die Natur als eine äußere Realität verstanden, die unabhängig von ihrem Handeln Bestand habe. Veränderungen der natürlichen Welt, so glaubten die Modernen, ließen sich durch mechanistische Naturgesetze beschreiben, die sie nur zu entdecken brauchten. Der Mensch hingegen bringe Kultur hervor und organisiere sich durch Regeln in Gesellschaften, die vom Menschen gemacht und damit auch von ihm verändert werden können. In dieser modernen Auffassung waren der Kultur-Mensch und die Natur eindeutig voneinander getrennte Sphären. Die Ideen, dass auch Tiere und die menschliche Seele mechanistisch konzipiert sind, wurden in der Zeit ihrer Entstehung im 16. und 17. Jahrhundert heiß diskutiert. Heute klingen sie absurd.

Latour hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Idee, dass Veränderungen im globalen Maßstab, insbesondere klimatische Veränderungen und deren Ursachen sich hinreichend mit solch mechanistischen und anderen reduktionistischen Ansätzen beschreiben ließen, zu wiederlegen. Mit Verweis auf die Biologin Lynn Margulis und den Chemiker und Erfinder James Lovelock nennt Latour die Ganzheit alles organischen und anorganischen Materials, aus dem der Planet besteht, »Gaia«. Gaia ist autotroph, d.h. Gaia benötigt Sonnenlicht, um sich zu verändern und hat kein homogenes internes Milieu, wie beispielsweise Tiere es haben. Dennoch reguliert Gaia, ebenso wie Säugetiere, selbst das interne Milieu. Gaia ersetzt die Idee der Erde als Natur, die ahistorisch, nicht reaktionsfähig und mechanistisch gedacht wurde.1 Ein zweiter zentraler Begriff in Latours Komposition der nichtmodernen Verfassung ist die Critical Zone, die sozusagen die Haut von Gaia ist. Sie umfasst die Land- sowie die Wassermassen der Erdoberfläche, etwa zwischen den sterilen Steinen und den Baumspitzen. Der Begriff »Critical Zone« tritt an die Stelle von Begriffen wie »Land« oder »Territorium«, die in legislativen und politischen Kontexten entstanden sind, während die Grenzen der Critical Zone dort verlaufen, wo die materiellen Lebensräume des organischen Lebens enden.2

Diese Critical Zone, die Haut von Gaia, ist der Lebensort der Terrestrischen. Latour führt diesen Begriff ein, »um nicht mehr von Menschen, Humanwesen, zu sprechen«, sondern von »Terrestrischen, von Erdverbundenen (earthbound)« wobei letzteres den Vorteil hat, »dass es weder Geschlecht noch Gattung genauer angibt«.3  Die Terrestrischen sind damit eine Kategorie, die nicht Menschen in Abgrenzung zu Tieren und Pflanzen setzt, sondern Terrestrische von Nicht-Terrestrischen unterscheidet. Das Handeln von Terrestrischen ist nicht von nationalen und ethnischen, identitären Interessen bestimmt. Sondern Terrestrische handeln in dem verantwortungsvollen Wissen, dass jedes einzelne Leben von einer Vielzahl anderer Entitäten abhängt, verpflichtet ist und gefährdet wird. Wir können diese Fähigkeit – unser Leben als bedingt durch Abhängigkeiten von Anderen zu begreifen – brachliegen lassen, wie die Modernen es taten, wenn sie an unbegrenztes Wachstum glaubten, auf einer Erde lebten, die mechanischen Naturgesetzen folgt. Und obendrein dies alles aus einer, eigentlich unmöglichen, »Vogelperspektive« des wissenschaftlichen Blickes betrachteten, da sie spätestens mit der Globalisierung von der Erde abgehoben hatten. Das große Problem sieht Latour darin, dass viel zu viele Menschen diese Abhängigkeiten, in denen wir stehen, nicht wahrhaben wollen. Wir meinen, wir seien autonom und unabhängig und verteidigen diese Ideale im Namen der Freiheit. Zur Lösung dieses Problems empfiehlt Latour, dass die Modernen, um terrestrisch zu werden, all die erdigen und materiellen Abhängigkeiten sichtbar machen und bewusst erfahren, die sie während ihres Höhenfluges ausgeblendet haben. Um das Bewusstsein für Abhängigkeiten zu bekommen und sie erfahren zu können, rät Latour die Abhängigkeiten zu beschreiben, sie konkret zu benennen.4 Zu wissen und erleben, wovon mein Überleben und Leben bedingt wird, ist notwendig, um sich in der Critical Zone zu orientieren und positionieren. Menschen verstehen sich dann als eine Komponente Gaias, aber eben nur als eine Komponente unter vielen. Sie sind weder die Krone der Schöpfung noch die Herrscher über die Natur. Heißt das, das ich terrestrisch bin, wenn ich konkret benennen kann, von wem und was mein Leben abhängt?

»Care«

Während des virtuellen Eröffnungsfestival der Ausstellung »Critical Zone« dachten Dipesh Chakrabarty und Donna Haraway die Terrestrischen aus postkolonialen und feministischen Perspektiven weiter. An Latours Konzept der Moderne kritisierten sie, dass bei Weitem nicht alle Menschen modern seien und sich den erdigen Abhängigkeiten enthoben wähnten. Die Aufgabe der Beschreibung der Abhängigkeiten stelle sich nur denjenigen, die den falschen Versprechen der Moderne verfallen seien. 

Chakrabarty denkt von der Massenarmut als ein Produkt des Klimawandels ausgehend über die Illusion nach, dass Sozialstaaten für ebendiese aufgrund des Klimawandels verarmten Massen sorgen könnten. Seiner Beobachtung nach handeln Menschen während und unmittelbar nach einer sogenannten Naturkatastrophe – die wiederum ein Effekt des Klimawandels ist – unmittelbar menschenzentriert. Das äußert sich in der Art, wie beispielsweise Tiere, die in einem Zyklon ihr Leben verlieren, betrachtet werden: primär als Verbreiter von Krankheitserregern. Chakrabarty schlägt vor, als die Terrestrischen diejenigen zu bezeichnen, die der Fürsorge (»care«) verpflichtet sind, und zwar der Fürsorge für Menschen und Nicht-Menschen.5

Donna Haraway beschreibt die Bewusstwerdung der eigenen Sterblichkeit als einen zentralen Punkt der Terrestrischen. Denn bei dem Bewusstsein für unsere Sterblichkeit gehe es darum, gut miteinander zu leben. Auch für Haraway kulminiert die Verantwortung, Pflicht und Freude der Terrestrischen in der »lust for caring and justice«. Über den von Chakrabarty benannten Zusammenhangs von zunehmender Massenarmut und dem Klimwandel sagt Haraway, dass verstanden werden müsse: »Oh my, we are in this together and no matter where we are positioned, we are responsible to and for each other. I think that’s about being terrestrial.« Viele Menschen müssten das nicht erst realisieren, da viele der Indigenen, ArbeiterInnen und andere AkteurInnen niemals vollständig abgehoben und somit niemals vollständig ihre Abhängigkeiten, Verbindungen und Verantwortungen vergessen haben. Terrestrisch zu leben bedeutet für Haraway: »coming to consciousness who and what we always have been«. Die Terrestrischen übernehmen Verantwortung für die Anderen, mit denen sie ihren Lebensraum teilen. Sie stehen in einem zeitlichen Kontinuum, was sie grundlegend von den Modernen, die mit vergangenen Zeiten gebrochen und den Raum erobert hatten, unterscheidet. Haraway gibt den ZuschauerInnen des Eröffnungsfestivals die Aufgabe mit, sich ein wenig Zeit zu nehmen, um jenes zu benennen, »that each person really cares about, something that matters … And how from that one proposes building a connection for a revolutionary terrestrial subject, how one proposes building the connectivity which can be part of transformation«. So verstehen Chakrabarty und Haraway die Terrestrischen – unabhängig davon, ob und wie weit sie zuvor modern waren – als »caring and respons-able«.6

Der Name der Terrestrischen für diejenigen, die wissen von wem sie und wer von ihnen abhängt und die sich in ihrem »Web of Life« fürsorglich bewegen, ist noch sehr jung – auch wenn er, wie Haraway und Chakrabarty betonen, einen Modus bezeichnet, der für viele Menschen schon immer Lebensrealität war. In den kommenden Jahren und Jahrzehnten wird sich zeigen, ob die »Terrestrischen« an Bedeutung gewinnen und ihr Name in Alltagssprachen aufgenommen wird. Ob und wie die Terrestrischen zu einem geläufigen Konzept werden, hängt davon ab, ob wir sie in unserem Denken, Handeln und Sprechen aufnehmen – um nicht über die Terrestrischen sprechen, sondern um terrestrisch zu sprechen.

Ein Beitrag von Johanna Ziebritzki.

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Bruno Latour: Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime. Berlin: Suhrkamp, 2017.
Bruno Latour with Timothy Lenton: Extending the domain of freedom, or why Gaia is so hard to understand. Critical Inquiry 45/3, 2019.

2 Der Begriff stammt aus der Earth System Science und findet sich vor allem in der Bezeichung »Critical Zone Observatories« wieder. Hier arbeiten ForscherInnen unterschiedlicher Disziplinen daran, Wechselwirkungen und Zusammenhängen zwischen den Bereichen zu verstehen, die in den fein aufgeteilten Wissensgebieten der vereinzelten Disziplinen unerkannt bleiben. Bruno Latour: Some advantages of the notion »Critical Zone« for Geopolitics. Procedia Earth and Planetary Science 10, 2014.

3 Bruno Latour: Das terrestrische Manifest. Berlin: Suhrkamp, 2018. S. 101.

4 Latour: Das Terrestrische Manifest. S. 96-114. 

5 https://zkm.de/de/critical-zones-streamingfestival, ab 3:44:55.

6 https://zkm.de/de/critical-zones-streamingfestival, ab: 13:51.