Peter Weibel: Einführung in die Ausstellung

Exo-Evolution

Bunte Wurzeln
Die industrielle Revolution war bekanntlich maschinenbasiert. Von der Dampfmaschine bis zum Auto und Filmprojektor wurde sie von einer Technologie dominiert, die vor allem auf dem technischen Prinzip des Rads beruhte. Diese Maschinen waren zum einen Beschleuniger, übernahmen allerdings als künstliche Werkzeuge in verbesserter Form auch die Aufgaben der natürlichen Organe: Was das Bein nicht leistete, vollbrachte das Rad, was das Auge nicht leistete, vollbrachte das Teleskop, was die Stimme nicht leistete, vollbrachten Mega- und Mikrofon. Die maschinenbasierte industrielle Revolution und die informationsbasierte postindustrielle Revolution bilden die technischen Voraussetzungen für eine Entwicklung, die sich mit dem Begriff »Exo-Evolution« fassen lässt.

Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er steht aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen.

Johann Gottfried Herder
Johann Gottlieb Herder stellte bereits eine Vision dessen vor, was die industrielle Revolution als geistesgeschichtliche Wende bedeutet, indem er 1791 formulierte: "Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er steht aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen. Wie die Natur ihm zwei freie Hände zu Werkzeugen gab und ein überblickendes Auge, seinen Gang zu leiten, so hat er auch in sich die Macht, nicht nur die Gewichte zu stellen, sondern auch, wenn ich so sagen darf, selbst Gewicht zu sein auf der Waage.“1 Mit seiner Gleichung „unsere Erde ist ein Stern unter Sternen“2 nahm Herder die Idee von Richard Buckminster Fuller vorweg, dass die Erde ein Raumschiff mit begrenzten Ressourcen und einer fehlenden Bedienungsanleitung sei:

„So, planners, architects, and engineers take the initiative. Go to work, and above all cooperate and don’t hold back on one another or try to gain at the expense of another. Any success in such lopsidedness will be increasingly short-lived. These are the synergetic rules that evolution is employing and trying to make clear to us. They are not man-made laws. They are the infinitely accommodative laws of the intellectual integrity governing universe.“3

Nicht nur das Projekt der Moderne ist ein unvollendetes Projekt, sondern der Mensch, die Erde und die Welt sind unvollendete, offene Projekte, die durch künftige Revolutionen transformiert werden. Gegenwärtig befinden wir uns am Beginn der digitalen Revolution. Herder deutet auf den entscheidenden Gedanken hin, dass die Natur dem Menschen durch den aufrechten Gang die Füße zu Händen befreite und sie von natürlichen Organen zu technischen Werkzeugen werden ließ. Damit ist die Entwicklung des Menschen in der industriellen Revolution vorformuliert; Organe werden zu künstlichen Werkzeugen, natürliche Sinnesorgane zu Maschinen, Medien und Apparaten, Natur zu Technik. Herder definiert diesen Übergang positiv als Moment der Freiheit. Aus dem Gefängnis der Natur entlassen, landen die Menschen als „freihändige Kulturwesen“4 (Kurt Bayertz) im Freihafen der Technik. Allerdings beinhaltet diese Freiheit der Wahl auch, dass der Mensch sich stets selbst zur Wahl stellt und vor der Wahl steht. Die Metapher von Herder, der Mensch habe nicht nur die Macht, die Gewichte zu stellen, sondern sei selbst Gewicht auf der Waage, verdeutlicht die Idee der Rekursion, des Rücklaufs – der Mensch ist Teil des Systems, das er beobachtet, in dem er wählt und abwiegt.
 

Ich bezeichne dies als Exodarwinismus.

Michael Serres
Durch die technische und industrielle Revolution ist der Mensch einmal mehr zum Freigelassenen, nämlich zum Freigelassenen der Evolution geworden. Diesen Vorgang, das Heraustreten des Menschen aus der natürlichen Evolution, nenne ich »Exo-Evolution«.

Von der Exo-Biologie zu Exo-Planeten, von Exo-Skeletten bis zu Exo-Schwangerschaften entstehen immer ausdifferenzierter die Konturen einer neuen Welt, die zutiefst technologisch geprägt ist. Der Begriff Exo-Evolution basiert auf dem von Michel Serres geprägten Begriff des Exo-Darwinismus:

„Aber was für die reinen Körperfunktionen gilt – etwa im Hinblick auf Hammer, Rad etc. – ist ebenso gültig für geistige/intellektuelle Funktionen (fonctions intellectuelles), und in der Tat sehen Sie deutlich, dass sich das Gedächtnis in der Schrift, im Buchdruck, in der Informatik vergegenständlicht [materialisiert] hat. Der Körper verliert tatsächlich – er verliert diese Objekte, die zum Träger einer Evolution werden, die wir technische Evolution, wissenschaftliche Evolution etc. nennen. Ich bezeichne dies als Exodarwinismus.“5

In seinem Werk »Grundlinien einer Philosophie der Technik« formulierte Ernst Kapp 1877 die Organprojektionsthese, wonach letztlich alle technischen Artefakte Abbilder und Projektionen von Organen sind; zum Beispiel bildet der Hammer die Faust ab, die Säge die Schneidezähne, die Telegrafie das Nervensystem und so weiter. Die technische Evolution ist also eine mehrfache Exteriorisierung, eine Auslagerung der natürlichen Körperorgane und -funktionen sowie der mentalen Funktionen in technische Maschinen: die Arme in Pfeil und Bogen, das Sprechen in die Schrift, das Gedächtnis in Tontafeln und Computer und so weiter. Die Medientheorie, die diesem Paradigma der Ausdehnung körperlicher Funktionen folgt, ist somit eine Organologie, die den Wandel von den natürlichen Organen zu den technischen Werkzeugen beschreibt. Die jeweilige Technologie der Zeit wird also verstanden als Auslagerung, Exteriorisierung und Externalisierung, von bereits vorhandenen organischen und geistigen menschlichen Eigenschaften. Zugleich basiert dieses Technikbild auf einer Anthropologie, die den Menschen als Mangelwesen definiert, das durch Technik verbessert wird. Diese Dialektik von Mensch und Mechanik, von Natur und Technik, von Organen und Werkzeugen wurde erstmals in der griechischen Antike formuliert und lebt heute bis in die Psychoanalyse hinein fort. Die griechische Gottheit für Hilflosigkeit hieß Amechania. »A« steht im Griechischen für die Verneinung – zum Beispiel ist Atomos das nicht Teilbare. Mechania bedeutet somit Hilfe, Hilfsfähigkeit. Ist dem Menschen ein Stein zu schwer, nutzt er einen Hebel, um den Stein zu bewegen – das ist die Idee der Mechanik als Steigerung menschlicher Fähigkeiten, beziehungsweise Kompensation fehlender natürlicher Fähigkeiten. Technik ist also eine von den Menschen humanisierte Natur, kurz: Technik ist menschengemachte Natur.
 

Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt.

Siegmund Freud
In seiner »Notiz über den ‚Wunderblock‘« (1924) schrieb Sigmund Freud: „Die Hilfsapparate […] sind alle so gebaut wie das Sinnesorgan selbst oder Teile desselben […]“6 und führt in »Das Unbehagen in der Kultur« (1930) aus:

„Mit all seinen Werkzeugen vervollkommnet der Mensch seine Organe – die motorischen wie die sensorischen – oder räumt die Schranken für ihre Leistung weg. Die Motoren stellen ihm riesige Kräfte zur Verfügung, die er wie seine Muskeln in beliebige Richtungen schicken kann […]. Mit der Brille korrigiert er die Mängel der Linse in seinem Auge, mit dem Fernrohr schaut er in entfernte Weiten, mit dem Mikroskop überwindet er die Grenzen der Sichtbarkeit, die durch den Bau seiner Netzhaut abgesteckt werden. In der photographischen Kamera hat er ein Instrument geschaffen, das die flüchtigen Seheindrücke festhält, was ihm die Grammophonplatte für die ebenso vergänglichen Schalleindrücke leisten muß, […]. Mit Hilfe des Telephons hört er aus Entfernungen, die selbst das Märchen als unerreichbar respektieren würde; die Schrift ist ursprünglich die Sprache des Abwesenden, das Wohnhaus ein Ersatz für den Mutterleib, die erste, wahrscheinlich noch immer ersehnte Behausung, in der man sicher war und sich so wohl fühlte. Es klingt nicht nur wie ein Märchen, es ist direkt die Erfüllung aller – nein, der meisten – Märchenwünsche, was der Mensch durch seine Wissenschaft und Technik auf dieser Erde hergestellt hat, in der er zuerst als ein schwaches Tierwesen auftrat und in die jedes Individuum seiner Art wiederum als hilfloser Säugling – oh inch of nature! – eintreten muß. […] Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen. Er hat übrigens ein Recht, sich damit zu trösten, daß diese Entwicklung nicht gerade mit dem Jahr 1930 A. D. abgeschlossen sein wird. Ferne Zeiten werden neue, wahrscheinlich unvorstellbar große Fortschritte auf diesem Gebiete der Kultur mit sich bringen, die Gottähnlichkeit noch weiter steigern.“7

Alle Technologie ist also Tele-Technologie, Überwindung von zeitlicher und räumlicher Ferne (griechisch: »tele«), von räumlichen und zeitlichen Distanzen: Telefax, Telefon, Television. Mit diesen maschinell beziehungsweise medial unterstützen, gleichsam unnatürlichen beziehungsweise übermenschlichen Fähigkeiten des Menschen wird alle Tele-Technologie indirekt und insgeheim zu einer Theo-Technologie, zu einer Technik, die den Menschen in seiner Vorstellung gottgleich macht.

Jede neue Technologie bedeutet die Neuprogrammierung des Sinnenlebens.

Marshall McLuhan
Marshall McLuhan legt in »Understanding Media: The Extensions of Men« (1964) sein Verständnis von Medien, ähnlich wie Freud, als Ausdehnung der menschlichen Sinnesorgane dar. In einem Essay von 1956 schrieb er: „Each new technology is the reprogramming of sensory life.“8 Damit meint er, dass erstens die Beziehungen der Sinnesorgane zueinander neu programmiert werden, und dass zweitens die Beziehung der Sinnesorgane zur Umwelt neu programmiert wird. Mit einem Wort: Unser gesamtes sensorisches Leben wird durch die Medien, die Maschinen und die Technologie re-programmiert.

Ein weiterer Zeuge für den Zusammenhang von Maschinen und Leben, von Exo-Evolution und Evolution, ist Samuel Butler.  Einige Jahre nachdem Charles Darwin 1859 seine Evolutionstheorie in »On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life« publiziert hatte, veröffentlichte Butler 1872 seinen utopischen Roman »Erewhon« (der Titel ein Anagramm des Wortes »nowhere«). In dessen Kapitel »Book of the Machines« übertrug er das Konzept der natürlichen Evolution auf die mechanische Welt. Bereits 1863 beschrieb Butler in einem Essay, der ihm als Grundlage für das Romankapitel diente, die Idee des mechanischen Lebens, das heißt eines künstlichen Lebens, und verglich die Idee der natürlichen Evolution mit der Evolution von Maschinen: „[W]e find ourselves almost awestruck at the vast development of the mechanical world, at the gigantic strides with which it has advanced in comparison with the slow progress of the animal and vegetable kingdom.“9

George Dyson hat in zwei Publikationen diese Idee weitergetrieben. In Darwin »Among the Machines. The Evolution of Global Intelligence« (1998) stellt er die These auf, dass das Internet ein bewusstes Lebewesen sei. In »Turing’s Cathedral. The Origins of the Digital Universe« (2012) beschreibt er treffend die Entstehung des digitalen Universums. Von manuellen bis zu mentalen Werkzeugen hat der Mensch im Laufe der Jahrtausende also eine Werkzeugkultur, eine »engineering culture«, hervorgebracht, welche die Grenzen der Wahrnehmung und der Welt erweiterte.

Vom Mikroskop zur Computertomografie haben sich die Techniken der Wahrnehmung in der Wissenschaft weiterentwickelt. Objekte, die für das natürliche Auge nicht erkennbar waren, wurden durch Apparate sichtbar gemacht. Die neuen Medien überführen die Techniken der apparativen Perzeption, von Fotografie bis Computer, in das Reich der Kunst. Dadurch entsteht ein neues Bewusstsein für die Verschränkung von natürlicher und apparativer Wahrnehmung, von Gegenstandswelt und Medienwelt, Kunst und Wissenschaft. Medien sind nicht nur Bild- und Ton-Maschinen, sondern auch Schnittstellen zur Konstruktion neuer Wirklichkeiten und neuer Kommunikationsformen.

Indem die Kunst dieses neue Feld der »engineering culture« nicht allein den Wissenschaften überlässt, schließt sie an den Anspruch anderer epistemischer Systeme an und auf, die Welt zu erklären und zu verändern.

Peter Weibel
Nachdem sich KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen eine gewisse Schnittmenge von Werkzeugen teilen, sehen die Studios von KünstlerInnen gelegentlich aus wie die Laboratorien der Wissenschaft – und umgekehrt. KünstlerInnen von heute sind weniger auf der Suche nach subjektiver Expression; ihre Referenzrahmen sind soziale Systeme sowie Strukturen und Methoden der Wissenschaften. Vor diesem Hintergrund entstehen neue Forschungsmethoden und Perspektiven wie art-based research (AR) oder Art & Science Labs. Eine Verwissenschaftlichung der Kunst wie in der kunsthistorischen Epoche der Renaissance zeichnet sich ab: eine »Renaissance 2.0«.

Die Ausstellung »Exo-Evolution« legt ihren Fokus auf die künstlerische Anwendung neuer Technologien und eröffnet mit verschiedenen Modulen Ausblicke in die Zukunft und Rückblicke in die Vergangenheit der Exteriorisierung menschlicher Fähigkeiten. Sie zeigt uns eine neue Realität, die geprägt ist von 3-D-Druckern und Robotern, Cyborgs und Chimären, Molekülen und Genpools, von tragbaren Technologien und medizinischen Wundern, von synthetischen Lebewesen, bionischen Anzügen und Silikonnetzhäuten, künstlichem Gewebe und biotechnologischen Reparaturmethoden, von Erkenntnissen aus der Weltraumforschung, der Molekularbiologie, der Neurologie, der Genetik, der Quanteninformatik. Und sie zeigt uns Visionen und Lösungen für Probleme des 20. Jahrhunderts, zum Beispiel die Abspaltung von Sauerstoff aus CO2 (Kohlenstoffdioxid), um die Klimakrise zu bewältigen. Mit seinen natürlichen Sinnesorganen wie Auge, Ohr, Hand und Mund operiert der Mensch in einem beschränkten Frequenzbereich und in einer begrenzten Sphäre. Augen, Ohren, Hände, Lunge sind Antworten der Evolution auf natürliche Bedingungen wie Sonnenlicht, Schallwellen, Atmosphäre. Malerei und Musik, die Kunstformen der Hand und des Mundes für das Auge und das Ohr, sind erste Antworten des Menschen auf die Evolution mit den von der Evolution hervorgebrachten natürlichen Organen und den von Menschen hergestellten Instrumenten innerhalb der historischen beschränkten Frequenzen beziehungsweise Wellenlängen. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts gibt es nun neue elektronische und digitale Kunstformen wie Film, Video, Computer, die das vom Menschen seit 130 Jahren eroberte erweiterte Spektrum der elektromagnetischen Wellen und der digitalen Werkzeugkultur nutzen.

Mit diesen Werkzeugen und Metawerkzeugen, mit diesen Daten und Metadaten, schafft sich der Mensch ein neues Exo-Universum. Indem die Kunst dieses neue Feld der »engineering culture« nicht allein den Wissenschaften überlässt, schließt sie an den Anspruch anderer epistemischer Systeme an und auf, die Welt zu erklären und zu verändern. Diese neue Kunst ist lösungsgetrieben wie die Entwicklung der Exo-Evolution insgesamt und somit selbst Teil der Exo-Evolution.

Quellennachweis

  1. Johann Gottfried Herder, »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, 1784–1791, 2 Bde., Bd. 1, Berlin, Weimar, 1965, S. 144.
  2. Ibid., S. 17.
  3. Richard Buckminster Fuller, »Operating Manual for Spaceship Earth«, Simon Schuster, New York, 1968, letzter Absatz.
  4. Kurt Bayertz, »Der aufrechte Gang«, C.H. Beck, München, 2012.
  5. Michel Serres, Interview in: Regards sur le sport. Michel Serre, philosophe imagess. Une documentaire de Benjamin Pichery, Insep, Paris 2009 (DVD), aus dem Französischen übersetzt von Philipp Sack.
  6. Sigmund Freud, »Notiz über den ‚Wunderblock‘«, 1924, in: Studienausgabe, Bd. 3: Psychologie des Unbewussten, Fischer, Frankfurt am Main, 1975, S. 363–369, hier S. 366.
  7. Sigmund Freud, »Das Unbehagen in der Kultur«, 1930, in: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften, Fischer, Frankfurt am Main, 1994, S. 57f. 8 Marshall McLuhan, David Carson, The Book of Probes, Gingko Press, Corte Madera, 2003, S. 162f.
  8. Samuel Butler, »Darwin Among the Machines. To the Editor of the Press«, Christchurch, New Zealand, 13 June, 1863“, in: ders., A First Year in Canterbury Settlement With Other Early Essays, A. C. Fifield, London, 1914, S. 179–185, hier S. 180.