Die Erforschung der Grenzkunst: Sichtbare Grenzen, unsichtbare Menschen und das Transborder Immigrant Tool

06.02.2014

Eine Hand mit einem Handy vor einer Tonne im Gelände

1995 eröffnete im kalifornischen San Diego das von den Sandia National Laboratories geleitete Border Research and Technology Center (BRTC). Das BRTC arbeitet mit dem Heimatschutzministerium, der Zoll- und Grenzschutzbehörde der Vereinigten Staaten, der US-Staatsanwaltschaft sowie den Polizeibehörden zusammen, um die technischen Möglichkeiten zur Sicherung und Überwachung der Grenzen der USA zu verbessern. Das BRTC beteiligt sich an Joint Ventures zur Identifikation von Technologien, die den Zustrom nicht registrierter Personen in die USA über die Grenze zu Mexiko eindämmen können; derzeit wirkt es an einem Projekt mit, um den Herzschlag eines in einem Fahrzeug oder Container versteckten Menschen technisch sichtbar zu machen. Neun Jahre nach Gründung des BRTC (also 2004) begann das b.a.n.g. lab (was für Bits, Atome, Neuronen und Gene steht) in Zusammenarbeit mit dem Electronic Disturbance Theater 2.0 (EDT) [Elektronisches Störungstheater] mit der Entwicklung eines Forschungszentrums für Grenzkunst und -technologie am California Institute for Telecommunications and Information Technology (CALIT2), einem 400 Millionen Dollar schweren akademischen Forschungsinstitut, das gemeinsam von der University of California, San Diego und der University of California, Irvine betrieben wird. Es soll sowohl eine Gegenästhetik als auch entscheidende Technologien entwickeln, mit denen sich die vom BRTC erforschten Grenztechnologien stören lassen.

Poster zum Transborder Immigrant Tool
Poster zum Transborder Immigrant Tool

2007 begannen EDT 2.0/b.a.n.g. lab mit der Entwicklung einer Technologie für Mobiltelefone, die Immigranten bei der Überquerung der Grenze zwischen Mexiko und den USA mit GPS-Koordinaten und Überlebenspoesie versorgt, um sie zu Wasservorräten in der Wüste Südkaliforniens zu führen ­– man taufte diese Technologie das Transborder Immigrant Tool (TBT) [Grenzüberschreitendes Immigrantentool]. 2010 entfachte das Projekt in der US-amerikanischen Politik einen regelrechten Flächenbrand an Kontroversen, im Zuge dessen die Künstler des EDT 2.0/b.a.n.g. lab ­– sowohl Ricardo Dominguez, der das EDT 1.0/2.0 mit dem New-Media-Künstler Brett Stalbaum mitbegründet hatte, als auch die neuen Mitglieder wie die Künstlerin und Theoretikerin Micha Cárdenas, Amy Sara Carroll (Dichterin und Grenzforscherin an der University of Michigan, Ann Arbor) sowie die Mixed-Reality-Künstlerin Elle Mehrmand – Gegenstand einer offiziellen Untersuchung seitens dreier republikanischer Kongressabgeordneter, der FBI-Abteilung für Cyberkriminalität und der University of California, San Diego (UCSD) wurden.

Das TBT begann mit der Grundfrage: Welche allgemein verbreitete Technologie würde uns die Entwicklung eines günstigen Tools zum Aufspüren von Wasservorräten erlauben, die NGOs zuvor in der Wüste Südkaliforniens angelegt hatten? Unsere Antwort war eine günstige iMotorola-Telefonbaureihe, die für die Navigation in Notfällen geeignet war. Schon die frühe Generation der von uns ins Auge gefassten Plattform kann in Situationen, in denen nichts anderes zur Verfügung steht, durchaus ihren Nutzen haben. Inzwischen erweisen sich die Telefone späterer Generationen (die zwar noch nicht ganz an unserer Preisgrenze liegen, sich dieser aber täglich weiter annähern) ohnehin bereits als praktische Hilfsmittel (und zwar selbst ohne eingebaute SIM-Karte oder verfügbare Netzabdeckung). Richtig eingesetzt entspricht die GPS-Leistung neuerer Telefone der Leistung eines GPS-Systems, das zur Orientierung in der Wüste entwickelt wurde – und die Preise für solche Telefone fallen immer weiter. Hinzu kommt, dass das GPS selbst keine Netzabdeckung braucht und weltweit kostenfrei zur Verfügung steht ­– dank der Regierung der Vereinigten Staaten. In Notsituationen vertrauen wir darauf, dass diese neueren Mobiltelefone einen Verirrten zu einem sicheren Unterschlupf ganz in seiner Nähe führen können. Der Code des TBT kann auch online unter walkingtools.net heruntergeladen werden (allerdings ohne die Standorte der Wasserverstecke): Jede Einzelperson und jede Gruppe kann ihn für eigene GPS-Vorhaben nutzen.

Plakat zum Transborder Immigrant Tool
Plakatwand zur Bewerbung des Transborder Immigrant Tool

Ein Teil der Geschichte des Electronic Disturbance Theater 1.0/2.0 und des b.a.n.g. lab bestand seit jeher in der Entwicklung von Werken zur Erschaffung einer performativen Matrix, in der die aktuellen Umstände, die Intensitäten von Macht respektive Mächten sowie Gruppen und deren Ängste und Widerstände aktiviert werden und eine Einschätzung erfahren können. Wenn also das US-Verteidigungsministerium am 9. September 1998 eine „Info-Waffe“ auf ein virtuelles Sit-in abfeuert oder es wie jetzt zu einem Zusammenströmen „viraler Reportagen“ kommt und eine affektive Hasswelle über das TBT hereinbricht, dann ist das für uns Teil der Performance ­– natürlich wäre es uns lieber, wenn es die Hassmails nie gegeben hätte, denn der Umgang mit den dominanten Medien ist schon schwer genug. Die Arbeitsästhetik eines postzeitgenössischen „Artivisten“-Gestus kann sich derartigen Begegnungen jedoch nicht entziehen; sie sind Teil unserer Werke und gehören zu ihrer Patina. Wir sind allerdings auch der Auffassung, dass Hassmails und die allgemeine Angst vor dem Verlust nationaler Reinheit genau jener Bedeutung von Poesie entsprechen, die diese Vorstellung von Reinheit angreift. So hat Glenn Beck, ein Sprachrohr der extremen Rechten auf dem Fox News Channel, nicht nur den Einsatz von Poesie durch das TBT angegriffen, sondern auch unterstellt, dass diese Poesie über die Macht verfügt, die Nation „aufzulösen“. Die performative Matrix des TBT erlaubt es viraler Berichterstattung, Hassmails, GPS, Poesie, der Grenze zwischen Mexiko und den USA sowie den Immigranten einander in einem Zustand der Reibung zu begegnen ­– einer Reibung, die die Frage aufzuwerfen versucht, inwiefern es unter der Überschrift Globalisierung-ist-Vergrenzung und der damit einhergehenden Ästhetik so etwas wie Nahrung überhaupt noch geben kann.

Wandinstallation aus sechs mobilen Geräten an Ladekabeln
Installation des Transborder Immigrant Tool

VON EDT 2.0/b.a.n.g. lab

Das Electronic Disturbance Theater 1.0/2.0 war schon immer an experimenteller Dichtung als Teil seiner Ausdrucksmittel interessiert ­– angefangen bei der Zufallspoesie des „404 file not found“ bei unseren ECD-Performances in den 1990er-Jahren bis zu den Grenzhackaktionen des Zapatista Tribal Port Scan 2000 auf den Servern des US-Grenzschutzes, bei denen wir Zapatista-Gedichte gescannt und hochgeladen haben, die auf unseren Servern verfasst wurden. Als wir mit der Entwicklung des TBT begannen, wurde es erneut wichtig, einen Kernimpuls für dieses Ausdrucksmittel zu besitzen. 2008 baten wir Amy Sara Carroll, eine experimentelle Dichterin und Forscherin an der University of Michigan, Ann Arbor, am TBT mitzuwirken – eines ihrer Forschungsprojekte war Kunst im Zusammenhang mit der Grenze zwischen Mexiko und den USA. Sie vertrat die Meinung, die Weiterentwicklung des TBT zu einem geopoetischen System könne den Rahmen der experimentellen Dichtung und des „Artivismus“ ausweiten. Anschließend begann sie mit uns daran zu arbeiten, zwei geopoetische Spuren zu etablieren: eine konzeptuelle und eine andere, die in mehreren Sprachen als Überlebenshandbuch für die Wüste fungiert und sowohl die Grenzen umreißt, die den Planeten überziehen, als auch die Sprachen beschreibt, die durch Immigranten die Grenze zwischen Mexiko und den USA überschreiten. Amy selbst äußerte sich zum TBT wie folgt:

„ [...] meine Zusammenarbeit mit dem Electronic Disturbance Theatre (EDT) am Transborder Immigrant Tool [...] stellte ich mir als ein sich ständig weiterentwickelndes, globales Projekt vor. Meine eigene Beteiligung an diesem fortlaufenden Prozess steht in Verbindung mit der Frage, was Nahrung im konzeptuell Alltäglichen auf die musischen Maßstäbe von Mikro und Makro bezogen überhaupt bedeutet. Denn allzu oft – und durchaus berechtigt – referieren Diskurse über die Grenze zwischen Mexiko und den USA auf Desorientierung, Sonnenstich und Wassermangel. Das Transborder Immigrant Tool versucht, diese Mängel und Unwägbarkeiten anzugehen, ohne dabei zu vernachlässigen, dass Ästhetik ­– beschwert mit dem unerträglichen Gewicht der ‚Liebe‘ – ­auch nährt. Von Anfang an als poetische Geste gedacht dient das Transborder Immigrant Tool jedoch auch der Umsetzung gewisser Bestrebungen, zum Beispiel der nach einem dislokativen Medium, insofern dislokative Medien versuchen, die Möglichkeiten des GPS als ‚globales Positionierungssystem‘ umzusetzen und als das, was in diesem Kontext von Laura Borràs Castanyer und Juan B. Gutiérrez als ‚globales poetisches System‘ bezeichnet wurde. Das Transborder Immigrant Tool beinhaltet Gedichte für Gespräche mit dem Geisterreich, gesprochene Worte der Ermutigung und Willkommensgrüße, die ich im Geiste von Audre Lordes Verkündung ‚Poesie ist kein Luxus‘ verfasse und mitentwickle. [...] es berichtet von der umfassenden Hingabe des Transborder Immigrant Tool an die globale Zivilgesellschaft. Denn dieser Auszug selbst ist von der ‚transversalen Logik‘ des Poetischen erfüllt und fungiert als einer der internen Kompasse des Transborder Immigrant Tool, wobei er die Mittel und Wege veranschaulicht, über die ich und meine Kollegen uns diesem Projekt ethisch flektiert nähern, indem wir das Lokale der (bi-)nationalen Politik, der Grenzen und der Überwachung transzendieren.“

Das TBT ist nicht nur eine Reaktion auf die Sicherung der Grenzen zwischen den USA und Mexiko, sondern auch eine kritische Reaktion auf die Vergrenzungspolitik, wie sie in der ganzen Welt zu beobachten ist – ein Vergrenzungsprojekt, das den Tod Hunderter zulässt, um aus der billigen und zu leistenden Arbeit Profit zu schlagen, die für den Fortgang der globalen Wirtschaft unerlässlich ist. Und seit dem 11. September 2001 ist die rasend schnelle Verbreitung von Grenzen – nicht nur an den Rändern von Nationalstaaten, sondern auch innerhalb von Nationalstaaten – von Biogovernance-Protokollen gekennzeichnet, die systematisch atavistische Emotionen wie Angst und Besorgnis mit Überwachungstechnologien verknüpft haben. Dabei werden imaginierte Vorstellungen vom Anderen (Immigranten) als Grund für die globalen ökonomischen und sozialen Krisen herangezogen, in denen wir uns wiederfinden, anstatt zu erkennen, dass die wahren Gründe für die stattfindende Sicherung bei Entitäten wie der NSA oder dem offenen Marktfluss undokumentierter Grenzüberschreitungen seitens der Megabanken und der Wall Street überall auf der Welt liegen; sie stellen den Ausgangspunkt jener Verknappungsschocks dar, die die gesamte Welt erschüttern.

 

Alle Artikel zur Blog-Diskussion im Rahmen von „global aCtIVISm“

Weitere Informationen unter: www.global-activism.de  

Als Zeichen der Solidarität mit den Zapatista-Gemeinden im mexikanischen Bundesstaat Chiapas entwickelte das Electronic Disturbance Theater (EDT) [Elektronisches Störungstheater] Techniken für virtuelle Sit-ins. Das Transborder Immigrant Tool  ­– das jüngste Projekt des EDT, das in Zusammenarbeit mit Brett Stalbaum, Micha Cárdenas, Dr. Amy Sara Carroll (University of Michigan) sowie Elle Mehrmand entstand – ist ein GPS-Sicherheitstool zur Überquerung der Grenze zwischen Mexiko und den USA und wurde 2008 mit dem Transnational Communities Award ausgezeichnet. Dieser Preis wurde von Cultural Contact, einer Stiftung für den kulturellen Austausch zwischen Mexiko und den USA ausgelobt und von der US-Botschaft in Mexiko verliehen. Weitere finanzielle Mittel für diesen Preis wurden vom California Institute for Telecommunications and Information Technology (CALIT2) bereitgestellt. Zudem erhielt das Projekt zwei Transborder Awards vom UCSD Center for the Humanities. Das Transborder Immigrant Tool wurde 2009 auf der California Biennial (OCMA), 2011 in der kanadischen Toronto Free Gallery sowie an zahlreichen weiteren Orten in der ganzen Welt ausgestellt. Das Projekt wurde 2009/2010 Gegenstand einer Untersuchung des US-Kongresses, und Glenn Beck beschrieb es 2010 in einer Rezension als Geste, die mit ihrer Poesie die Grenzen der USA aufzulösen vermag.

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Anmerkung

Übersetzung aus dem Englischen von Christiansen & Plischke

Kategorie: Gesellschaft