Menschliche Hand

08.05.2015

Ein freundlicher Parasit

Dorcas Müllers »Die Erschaffung des Neuros« im Videoprogramm der »Frauenperspektiven 2015«

VON CLAUDIA GEHRIG

Das Video beginnt mit folgender Einstellung: Eine Hand ragt von der linken Bildhälfte mit ausgestrecktem Zeigefinger hin zu einem wurmartigen Wesen, das mit einem beringten Metallplättchen verbunden ist. Was verbirgt sich dahinter?

Der glänzend schwarze Wurm hat sich am Finger angeheftet und beginnt sich wellenartig vollzusaugen. Nach kurzer Betrachtung erschließt sich, dass es sich um einen Blutegel handelt, der sich allmählich vergrößert und schwerer wird, was den Winkel der Handhaltung verändert. Der surrende Geräuschpegel im Hintergrund und die Ausleuchtung der Szene schaffen die Atmosphäre einer Versuchsanordnung.

Schöpfungsgeste mit ungewissem Ausgang

Tatsächlich ist das Video von Dorcas Müller künstlerisches Ergebnis monatelanger Begleitung und Beobachtung der Neurochipforschung am Max-Planck-Institut in München/Martinsried. Die Zellen der Blutegel sind wegen ihrer Größe besonders gut geeignet, um als organische Schnittstelle zu dienen, die auf Computerchips aufgebracht werden, um deren Eigenschaften als Steuermodule zu beobachten.

Dorcas Müller variiert diese Versuchsanordnung und verbindet den Neurochip mit der »Schöpfungskette« Zeigefinger-Egel-Neurochip. Der bildkonnotierte Schöpfungsgestus ist dabei trügerisch: Dient die schöpfende Hand dabei nicht als Initialzünder des Geistes sondern als Nahrungsquelle des sich vollsaugenden organischen Steuermoduls. Die Künstlerin wird zum Parasiten.

»Vom ungezwungenen, um nicht zu sagen frivolen Verhältnis zu den heiligen Wahrheiten der Naturwissenschaft«

Süddeutsche Zeitung, 2001

In Folge ihres Forschungsaufenthaltes am Max-Planck-Institut entstand eine Reihe von Video- und Fotoarbeiten der Künstlerin. Dabei war sie zunächst eine Beobachtende, dann kommentierender und kommunizierender Gast, der dem Forschungsumfeld künstlerische Sichtweisen hinzufügen konnte, die über das Illustrierende weit hinaus gehen.

Gerade die organischen Schnittstellen veranlassten sie dazu, die menschliche Gegenwart in der Versuchsanordnung zu verankern. Wie auch in ihrer Videoarbeit »Wie der tote Hase dem toten Beuys den Menschen erklärt« von 2004. Darin greift sie die berühmte Perfomance Joseph Beuys’ »Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt« auf, im Bezug auf die Retina Forschung mit dem Auge eines toten Kaninchens.

Dorcas Müllers Werke finden sich im Ausstellungskontext der Arbeiten wieder, die eine Schnittstelle zu Kunst und Wissenschaft [Anm. d. Red. vgl. den von Peter Weibel geprägten Begriff Renaissance 2.0, ein um die Naturwissenschaften erweiterter Kunstbegriff] darstellen.

Sie beflügeln gegenseitige Kommunikation und ungewöhnliche Spielräume und Sichtweisen, die zeigen, dass wissenschaftliche Modelle, wie sie selbst sagt, Ausschnitte einer Wirklichkeit sind, die immer wieder verblüffen, deren Denkstruktur und Ursprung aber nirgends anders denkbar ist, als in der Natur an sich.

Zur Person

Dorcas Müller studierte Medienkunst an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe bei Ulay (Uwe Laysiepen). Für ihre künstlerische Arbeit wurde sie unter anderem vom Kunstfonds Bonn sowie vom ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe gefördert. In ihren Arbeiten beschäftigt sie sich mit populären Ikonen der Naturwissenschaften im Rahmen der Kulturindustrie.

www.dorcasmueller.de